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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die dramatische Kunst G, von Wildenbruchs.

anders sein kann, noch mehr als die männlichen Mitglieder derselben ohne den
Mut der Selbstbestimmung, erzogen in gottergebnem Gehorsam gegen den
liebevollen Willen des Vaters, folgt sie den sanften Vorstellungen desselben
und willigt in die Verlobung mit Mathias, Zwar ist sie von ihrer ersten
Jugend durch eine zarte Neigung mit Reinhold verbunden, aber sie hat doch
von der eigentlichen Kraft desselben keine Ahnung, und erst die Ereignisse,
welche stürmischen Ganges den Inhalt des Dramas bilden, geben ihr Aufschluß,
wohin die Richtung ihrer Gedanken und ihres Herzens geht. So ist hier eine
psychologisch durchaus richtige und daher umso fesseludere Steigerung des
Seelenlebens eines Menschen von seinem ersten unschlüssiger Erwachen bis zu
kraftvollster Selbstbestimmung, In demselben Maße wie bei Reinhold, wächst
auch in ihr die Erkenntnis nicht allein des Rechtes ihrer Freiheit, sondern anch
das ihrer Pflichten, welche eine weitere und höhere Gemeinschaft als die der
Glaubensbrüder ihr auferlegen. Es ist in Wahrheit in hohem Grade rührend
und ergreifend, wie das kaum den Kinderjahren entwachsene Mädchen in steter
Folgerichtigkeit, zuerst im Widerspruch mit sich selbst, dann in milden Aus¬
einandersetzungen mit dem Vater und endlich in spannenden und doch nicht
überspannten Szenen mit dem Geliebten, sich zu seiner höhern Wahrheit durch¬
kämpft.

Nach dem, was bisher über den Inhalt des Dramas gesagt worden, ist
es nur selbstverständlich, daß dem auch die Form entsprechend sein muß. In
der That hat die dichterische Sprache Wildenbruchs nirgends den gleichen Höhe¬
punkt erreicht. Mau hat wohl darauf hingewiesen, daß dieselbe nicht in Über¬
einstimmung sei mit der einfachen bürgerlichen Stellung, welche die Maroniten
einnehmen, und das würde dann ungefähr dasselbe sein, was oben von Rein¬
hold gesagt wurde, daß er dem Leser oder Hörer zur Austragung eines Ehren¬
handels mit der Waffe wenig geeignet erscheine. Indes kann der Fehler
hier anch an unsrer Vorstellung liegen, WÄche unbewußt diese Leute tiefer stellt,
als es in der Absicht des Dichters liegt. Jedenfalls ist die vorgestellte Ein¬
fachheit doch mir eine äußerliche, und da man von den Menoniten weiß, daß
sie durch fortgesetztes Forschen in der heiligen Schrift an scharfes Denken ge¬
wöhnt sind, so können wir wohl begreifen, daß ihre Gedanken, wenn sie durch
große Ereignisse aus der Richtung gedrängt, von der Leidenschaft getrieben
werden, den Ton und die Form annehmen, welche der Dichter gewählt hat.
Wenn aber im übrigen Wort und Gedanke sich decken, wenn der Ausdruck in
Kraft und Tiefe hinter keiner Bewegung weder des Verstandes noch des Ge¬
mütes zurückbleibt, aber auch nicht darüber hinausgeht, dann hat der Dichter
eine der obersten Aufgaben erfüllt, die ihm gestellt sind, und wer billig und
unparteiisch urteilen will, der muß zugestehen, daß Wildenbruch nirgends dieser
Aufgabe in höherm Grade gerecht geworden ist als hier. Eine Auswahl von
Stellen zu geben sei mir diesmal erspart, ich wüßte auch kaum, welcher der


Die dramatische Kunst G, von Wildenbruchs.

anders sein kann, noch mehr als die männlichen Mitglieder derselben ohne den
Mut der Selbstbestimmung, erzogen in gottergebnem Gehorsam gegen den
liebevollen Willen des Vaters, folgt sie den sanften Vorstellungen desselben
und willigt in die Verlobung mit Mathias, Zwar ist sie von ihrer ersten
Jugend durch eine zarte Neigung mit Reinhold verbunden, aber sie hat doch
von der eigentlichen Kraft desselben keine Ahnung, und erst die Ereignisse,
welche stürmischen Ganges den Inhalt des Dramas bilden, geben ihr Aufschluß,
wohin die Richtung ihrer Gedanken und ihres Herzens geht. So ist hier eine
psychologisch durchaus richtige und daher umso fesseludere Steigerung des
Seelenlebens eines Menschen von seinem ersten unschlüssiger Erwachen bis zu
kraftvollster Selbstbestimmung, In demselben Maße wie bei Reinhold, wächst
auch in ihr die Erkenntnis nicht allein des Rechtes ihrer Freiheit, sondern anch
das ihrer Pflichten, welche eine weitere und höhere Gemeinschaft als die der
Glaubensbrüder ihr auferlegen. Es ist in Wahrheit in hohem Grade rührend
und ergreifend, wie das kaum den Kinderjahren entwachsene Mädchen in steter
Folgerichtigkeit, zuerst im Widerspruch mit sich selbst, dann in milden Aus¬
einandersetzungen mit dem Vater und endlich in spannenden und doch nicht
überspannten Szenen mit dem Geliebten, sich zu seiner höhern Wahrheit durch¬
kämpft.

Nach dem, was bisher über den Inhalt des Dramas gesagt worden, ist
es nur selbstverständlich, daß dem auch die Form entsprechend sein muß. In
der That hat die dichterische Sprache Wildenbruchs nirgends den gleichen Höhe¬
punkt erreicht. Mau hat wohl darauf hingewiesen, daß dieselbe nicht in Über¬
einstimmung sei mit der einfachen bürgerlichen Stellung, welche die Maroniten
einnehmen, und das würde dann ungefähr dasselbe sein, was oben von Rein¬
hold gesagt wurde, daß er dem Leser oder Hörer zur Austragung eines Ehren¬
handels mit der Waffe wenig geeignet erscheine. Indes kann der Fehler
hier anch an unsrer Vorstellung liegen, WÄche unbewußt diese Leute tiefer stellt,
als es in der Absicht des Dichters liegt. Jedenfalls ist die vorgestellte Ein¬
fachheit doch mir eine äußerliche, und da man von den Menoniten weiß, daß
sie durch fortgesetztes Forschen in der heiligen Schrift an scharfes Denken ge¬
wöhnt sind, so können wir wohl begreifen, daß ihre Gedanken, wenn sie durch
große Ereignisse aus der Richtung gedrängt, von der Leidenschaft getrieben
werden, den Ton und die Form annehmen, welche der Dichter gewählt hat.
Wenn aber im übrigen Wort und Gedanke sich decken, wenn der Ausdruck in
Kraft und Tiefe hinter keiner Bewegung weder des Verstandes noch des Ge¬
mütes zurückbleibt, aber auch nicht darüber hinausgeht, dann hat der Dichter
eine der obersten Aufgaben erfüllt, die ihm gestellt sind, und wer billig und
unparteiisch urteilen will, der muß zugestehen, daß Wildenbruch nirgends dieser
Aufgabe in höherm Grade gerecht geworden ist als hier. Eine Auswahl von
Stellen zu geben sei mir diesmal erspart, ich wüßte auch kaum, welcher der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/27>, abgerufen am 04.07.2024.