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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Sicherheit des Lebens und Eigentums mehr vorhanden ist; wenn in den ge¬
priesenen Vereinigten Staaten die Arbeiterbewegungen eine Form anzunehmen be¬
ginnen, welche wie eine bittere Satire auf die guten Leute aussieht, von denen uns
versichert wurde, wenn die Arbeiter nur erst organisirt seien, so würden keine
einzelnen Ausschreitungen und Brutalitäten mehr stattfinden, sondern man werde
sachlich mit ihnen verhandeln können; wenn in Frankreich die regierenden Kreise
Anstalt machen, sich dem Anarchismus zuzuneigen oder doch eine Abmachung
n,ä too mit demselben unter ihre Berechnungen aufzunehmen; wenn aus Öster¬
reich, Italien, Spanien minder hervortretende, aber im Grunde nicht minder
beunruhigende Nachrichten kommen; wenn in Rußland das Feuer des Nihilismus
unter der Asche fortglüht und an den Erscheinungen, welche denselben erzeugt
haben, doch in Wahrheit nichts geändert ist; wenn endlich in Belgien die Flammen
loh emporschlagen -- da ist es wahrlich nicht mehr um der Zeit, sich damit zu
trösten, daß in !it>Le,r^vo hier wohl Bedenken und Gefahren vorhanden sein
möchten, in (Zvnvröw aber doch wohl zur Zeit noch nichts Ernstes zu fürchten
sei. Man hat, wie wir glauben mit Recht, darauf aufmerksam gemacht, daß
der Ausbruch stürmischer Volksbewegungen an gewisse Perioden gebunden zu
sein scheine, und daß manches für eine Wiederkehr der französischen Revolutions-
sturme nach etwa hundert Jahren -- also gerade jetzt -- spreche; jedenfalls ist
es nach den seit einiger Zeit sich drängenden Nachrichten und Beobachtungen
nichts weniger als unwahrscheinlich, daß im Laufe der nächsten Jahre die belgi¬
schen Auftritte sich in großartigerer, mehr systematisch geleiteter und umfassenderer
Weise wiederholen und sich hierbei auf ganz Mitteleuropa, ja vielleicht auf
ganz Europa ausdehnen- In Österreich ist neulich aus hocharistokratischem
Munde das Wort gefallen, die nationalen Ideen und Antriebe fingen unter
den Völkern an zu verblassen, und die sozialen träten immer mehr in den Vorder¬
grund. Es mag dies nur in beschränktem Sinne wahr sein, denn wir sehen
ja auf Schritt und Tritt, daß einstweilen die nationalen Ansprüche und Ab¬
neigungen noch eine große Rolle spielen, aber jedenfalls ist etwas daran. Und
daß unter der Arbeiterwelt, namentlich soweit dieselbe zu revolutionären Aus-
brüchen disponirt ist, die Ideen der Jntcrnationalität eine große und anscheinend
immer mehr anwachsende Rolle spielen, scheint unzweifelhaft. So bleibt immer
wieder die Frage, was wir ans unsern eignen Kräften einem etwaigen Aus¬
bruche oder einem Überspringen desselben nach Deutschland entgegenzustellen
haben?

Stellen wir vor allem fest, in welchem Umfange unsre Svzialdemokmtie
als die natürliche Genossin und, sobald Aussichten auf Erfolg gegeben sind, zu
jeder Mitwirkung bereite Verbündete der europäischen Sozialrevolntion anzu¬
sehen ist. Dies ist in der That ein Punkt, über den, wenn man sich nicht
von der bestimmten Absicht leiten läßt, nicht sehen zu wollen, ein Zweifel nicht
obwalten kann. Die Führer der Sozialdemokratie haben unzcihligemnle, schriftlich


Sicherheit des Lebens und Eigentums mehr vorhanden ist; wenn in den ge¬
priesenen Vereinigten Staaten die Arbeiterbewegungen eine Form anzunehmen be¬
ginnen, welche wie eine bittere Satire auf die guten Leute aussieht, von denen uns
versichert wurde, wenn die Arbeiter nur erst organisirt seien, so würden keine
einzelnen Ausschreitungen und Brutalitäten mehr stattfinden, sondern man werde
sachlich mit ihnen verhandeln können; wenn in Frankreich die regierenden Kreise
Anstalt machen, sich dem Anarchismus zuzuneigen oder doch eine Abmachung
n,ä too mit demselben unter ihre Berechnungen aufzunehmen; wenn aus Öster¬
reich, Italien, Spanien minder hervortretende, aber im Grunde nicht minder
beunruhigende Nachrichten kommen; wenn in Rußland das Feuer des Nihilismus
unter der Asche fortglüht und an den Erscheinungen, welche denselben erzeugt
haben, doch in Wahrheit nichts geändert ist; wenn endlich in Belgien die Flammen
loh emporschlagen — da ist es wahrlich nicht mehr um der Zeit, sich damit zu
trösten, daß in !it>Le,r^vo hier wohl Bedenken und Gefahren vorhanden sein
möchten, in (Zvnvröw aber doch wohl zur Zeit noch nichts Ernstes zu fürchten
sei. Man hat, wie wir glauben mit Recht, darauf aufmerksam gemacht, daß
der Ausbruch stürmischer Volksbewegungen an gewisse Perioden gebunden zu
sein scheine, und daß manches für eine Wiederkehr der französischen Revolutions-
sturme nach etwa hundert Jahren — also gerade jetzt — spreche; jedenfalls ist
es nach den seit einiger Zeit sich drängenden Nachrichten und Beobachtungen
nichts weniger als unwahrscheinlich, daß im Laufe der nächsten Jahre die belgi¬
schen Auftritte sich in großartigerer, mehr systematisch geleiteter und umfassenderer
Weise wiederholen und sich hierbei auf ganz Mitteleuropa, ja vielleicht auf
ganz Europa ausdehnen- In Österreich ist neulich aus hocharistokratischem
Munde das Wort gefallen, die nationalen Ideen und Antriebe fingen unter
den Völkern an zu verblassen, und die sozialen träten immer mehr in den Vorder¬
grund. Es mag dies nur in beschränktem Sinne wahr sein, denn wir sehen
ja auf Schritt und Tritt, daß einstweilen die nationalen Ansprüche und Ab¬
neigungen noch eine große Rolle spielen, aber jedenfalls ist etwas daran. Und
daß unter der Arbeiterwelt, namentlich soweit dieselbe zu revolutionären Aus-
brüchen disponirt ist, die Ideen der Jntcrnationalität eine große und anscheinend
immer mehr anwachsende Rolle spielen, scheint unzweifelhaft. So bleibt immer
wieder die Frage, was wir ans unsern eignen Kräften einem etwaigen Aus¬
bruche oder einem Überspringen desselben nach Deutschland entgegenzustellen
haben?

Stellen wir vor allem fest, in welchem Umfange unsre Svzialdemokmtie
als die natürliche Genossin und, sobald Aussichten auf Erfolg gegeben sind, zu
jeder Mitwirkung bereite Verbündete der europäischen Sozialrevolntion anzu¬
sehen ist. Dies ist in der That ein Punkt, über den, wenn man sich nicht
von der bestimmten Absicht leiten läßt, nicht sehen zu wollen, ein Zweifel nicht
obwalten kann. Die Führer der Sozialdemokratie haben unzcihligemnle, schriftlich


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[0251] Sicherheit des Lebens und Eigentums mehr vorhanden ist; wenn in den ge¬ priesenen Vereinigten Staaten die Arbeiterbewegungen eine Form anzunehmen be¬ ginnen, welche wie eine bittere Satire auf die guten Leute aussieht, von denen uns versichert wurde, wenn die Arbeiter nur erst organisirt seien, so würden keine einzelnen Ausschreitungen und Brutalitäten mehr stattfinden, sondern man werde sachlich mit ihnen verhandeln können; wenn in Frankreich die regierenden Kreise Anstalt machen, sich dem Anarchismus zuzuneigen oder doch eine Abmachung n,ä too mit demselben unter ihre Berechnungen aufzunehmen; wenn aus Öster¬ reich, Italien, Spanien minder hervortretende, aber im Grunde nicht minder beunruhigende Nachrichten kommen; wenn in Rußland das Feuer des Nihilismus unter der Asche fortglüht und an den Erscheinungen, welche denselben erzeugt haben, doch in Wahrheit nichts geändert ist; wenn endlich in Belgien die Flammen loh emporschlagen — da ist es wahrlich nicht mehr um der Zeit, sich damit zu trösten, daß in !it>Le,r^vo hier wohl Bedenken und Gefahren vorhanden sein möchten, in (Zvnvröw aber doch wohl zur Zeit noch nichts Ernstes zu fürchten sei. Man hat, wie wir glauben mit Recht, darauf aufmerksam gemacht, daß der Ausbruch stürmischer Volksbewegungen an gewisse Perioden gebunden zu sein scheine, und daß manches für eine Wiederkehr der französischen Revolutions- sturme nach etwa hundert Jahren — also gerade jetzt — spreche; jedenfalls ist es nach den seit einiger Zeit sich drängenden Nachrichten und Beobachtungen nichts weniger als unwahrscheinlich, daß im Laufe der nächsten Jahre die belgi¬ schen Auftritte sich in großartigerer, mehr systematisch geleiteter und umfassenderer Weise wiederholen und sich hierbei auf ganz Mitteleuropa, ja vielleicht auf ganz Europa ausdehnen- In Österreich ist neulich aus hocharistokratischem Munde das Wort gefallen, die nationalen Ideen und Antriebe fingen unter den Völkern an zu verblassen, und die sozialen träten immer mehr in den Vorder¬ grund. Es mag dies nur in beschränktem Sinne wahr sein, denn wir sehen ja auf Schritt und Tritt, daß einstweilen die nationalen Ansprüche und Ab¬ neigungen noch eine große Rolle spielen, aber jedenfalls ist etwas daran. Und daß unter der Arbeiterwelt, namentlich soweit dieselbe zu revolutionären Aus- brüchen disponirt ist, die Ideen der Jntcrnationalität eine große und anscheinend immer mehr anwachsende Rolle spielen, scheint unzweifelhaft. So bleibt immer wieder die Frage, was wir ans unsern eignen Kräften einem etwaigen Aus¬ bruche oder einem Überspringen desselben nach Deutschland entgegenzustellen haben? Stellen wir vor allem fest, in welchem Umfange unsre Svzialdemokmtie als die natürliche Genossin und, sobald Aussichten auf Erfolg gegeben sind, zu jeder Mitwirkung bereite Verbündete der europäischen Sozialrevolntion anzu¬ sehen ist. Dies ist in der That ein Punkt, über den, wenn man sich nicht von der bestimmten Absicht leiten läßt, nicht sehen zu wollen, ein Zweifel nicht obwalten kann. Die Führer der Sozialdemokratie haben unzcihligemnle, schriftlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/251>, abgerufen am 02.07.2024.