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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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gefühl geheiratete Frau führt ein bitteres Leben bei ihm: sie hat es nicht viel
besser als im Zuchthause; selbst ihre auffallende Schönheit gereicht ihr zum Vor¬
wurf, da sie zur Sünde verführt. Briccius nimmt alles gleich schwer, die
kleinen, durch sein hartes Wesen entstehenden Notlügen des häuslichen Lebens
bringen ihn ebenso auf wie die größten Unthaten. Dabei ist er doch im Grunde
wohlmeinend, nimmt anch die Pflicht des Gatten so streng wie die andern, ist aber
so unliebenswürdig, mit seinen Moralpredigten so unsäglich hart, daß es die
demütig dankbare Blandine schließlich auch uicht mehr aushält und mitten im
strengsten Winter in die Heimat entflieht, wobei sie sich ans den Tod erkältet und
bald nach ihrer Ankunft in Lvttersleben stirbt. Diese Erfahrung endlich und
mehr noch eine zweite, gleichzeitig hinzukommende bewirken in Briecins die Er¬
kenntnis des großen Irrtums, in dem er bisher befangen war. Blandine hatte
Pflege bei eben jenem Doktor Emmerich gefunden, der immer ironisch den Fana¬
tiker der Pflicht beobachtet hat, und der jenes Mädchen heiratete, welches Briceius
damals der vermeintlichen Pflicht geopfert hat. Die wahre Humanität des
milden Arztes hatte Barbaras Liebe errungen, und Briceius ist Zeuge eines
ehelichen Glückes, von dem er kaum geträumt hat. Da gehen ihm endlich die
Augen auf, daß es außer der Pflicht noch etwas andres gebe, was göttlicher
ist. "Wir reden von dem Willen Gottes, sagte er, ist es nicht Narrheit? Als
ob wir diesen Willen begreifen könnten! Und von seinen Gesetzen, als ob es
dem Stande möglich sei, gegen die Ordnung des Ewigen zu leben! Uns rettet
nichts vor dem Aufblühen, Verwelken und Absterben, weder das, was wir Sünde
nennen, noch die Tugend; wir siud machtlos, blind, wahnsinnig, und nicht einmal
glücklich in unsrer Blindheit. ... Ich habe an die göttliche Liebe geglaubt, ohne
sie jemals zu begreifen; aber wenn die Liebe das höchste Gefühl der Menschen
ist, war es thöricht, sie anch in Gott zu denken? Wir erhoben sie in das Un¬
begreifliche, um die alten Sagen von der Heldenkraft menschlicher Liebe über¬
treffen zu können. Ach, es ist etwas Großes in diesem Wahne!" Und der
stolze Jonas Brieeins bittet in dieser Stunde bitterster Selbsterkenntnis zum
erstenmale um Liebe. Aber, o Ironie des Schicksals, die Fran, um deren Liebe
er so spät wirbt, ist die Gattin eines andern, und seine in so tiefer Not des
Herzens demütig angebrachte Werbung ist nichts mehr und nichts weniger als ein
Versuch der Verleitung zum Ehebruch! Hat da der hinzukommende, in einiger
Eifersucht auflodernde Gatte nicht das Recht, dem stolzen Briceius zu sagen:
"Für mich bitte ich, daß Sie mein Haus meiden, bis wir um zehn Jahre älter
siud, und dann wünsche ich, daß Sie sich dieser Stunde erinnern mögen, wenn
Ehr- und Rechtsgefühl wieder in ihrer Seele aufwachen"!

Nun erst ist dieser eiserne Charakter gebrochen, und die nächste Folge ist,
daß Jonas Brieeins in dumpfe Gleichgiltigkeit für alles versinkt: er vernach¬
lässigt seine Schule, er schreibt keine Artikel mehr, er entzieht sich aller Pflicht¬
erfüllung und gerät auf den Standpunkt der "Wurstigkeit," des rohen phili-


Grenzboten II. 188". 28

gefühl geheiratete Frau führt ein bitteres Leben bei ihm: sie hat es nicht viel
besser als im Zuchthause; selbst ihre auffallende Schönheit gereicht ihr zum Vor¬
wurf, da sie zur Sünde verführt. Briccius nimmt alles gleich schwer, die
kleinen, durch sein hartes Wesen entstehenden Notlügen des häuslichen Lebens
bringen ihn ebenso auf wie die größten Unthaten. Dabei ist er doch im Grunde
wohlmeinend, nimmt anch die Pflicht des Gatten so streng wie die andern, ist aber
so unliebenswürdig, mit seinen Moralpredigten so unsäglich hart, daß es die
demütig dankbare Blandine schließlich auch uicht mehr aushält und mitten im
strengsten Winter in die Heimat entflieht, wobei sie sich ans den Tod erkältet und
bald nach ihrer Ankunft in Lvttersleben stirbt. Diese Erfahrung endlich und
mehr noch eine zweite, gleichzeitig hinzukommende bewirken in Briecins die Er¬
kenntnis des großen Irrtums, in dem er bisher befangen war. Blandine hatte
Pflege bei eben jenem Doktor Emmerich gefunden, der immer ironisch den Fana¬
tiker der Pflicht beobachtet hat, und der jenes Mädchen heiratete, welches Briceius
damals der vermeintlichen Pflicht geopfert hat. Die wahre Humanität des
milden Arztes hatte Barbaras Liebe errungen, und Briceius ist Zeuge eines
ehelichen Glückes, von dem er kaum geträumt hat. Da gehen ihm endlich die
Augen auf, daß es außer der Pflicht noch etwas andres gebe, was göttlicher
ist. „Wir reden von dem Willen Gottes, sagte er, ist es nicht Narrheit? Als
ob wir diesen Willen begreifen könnten! Und von seinen Gesetzen, als ob es
dem Stande möglich sei, gegen die Ordnung des Ewigen zu leben! Uns rettet
nichts vor dem Aufblühen, Verwelken und Absterben, weder das, was wir Sünde
nennen, noch die Tugend; wir siud machtlos, blind, wahnsinnig, und nicht einmal
glücklich in unsrer Blindheit. ... Ich habe an die göttliche Liebe geglaubt, ohne
sie jemals zu begreifen; aber wenn die Liebe das höchste Gefühl der Menschen
ist, war es thöricht, sie anch in Gott zu denken? Wir erhoben sie in das Un¬
begreifliche, um die alten Sagen von der Heldenkraft menschlicher Liebe über¬
treffen zu können. Ach, es ist etwas Großes in diesem Wahne!" Und der
stolze Jonas Brieeins bittet in dieser Stunde bitterster Selbsterkenntnis zum
erstenmale um Liebe. Aber, o Ironie des Schicksals, die Fran, um deren Liebe
er so spät wirbt, ist die Gattin eines andern, und seine in so tiefer Not des
Herzens demütig angebrachte Werbung ist nichts mehr und nichts weniger als ein
Versuch der Verleitung zum Ehebruch! Hat da der hinzukommende, in einiger
Eifersucht auflodernde Gatte nicht das Recht, dem stolzen Briceius zu sagen:
„Für mich bitte ich, daß Sie mein Haus meiden, bis wir um zehn Jahre älter
siud, und dann wünsche ich, daß Sie sich dieser Stunde erinnern mögen, wenn
Ehr- und Rechtsgefühl wieder in ihrer Seele aufwachen"!

Nun erst ist dieser eiserne Charakter gebrochen, und die nächste Folge ist,
daß Jonas Brieeins in dumpfe Gleichgiltigkeit für alles versinkt: er vernach¬
lässigt seine Schule, er schreibt keine Artikel mehr, er entzieht sich aller Pflicht¬
erfüllung und gerät auf den Standpunkt der „Wurstigkeit," des rohen phili-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/225>, abgerufen am 28.12.2024.