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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Wissen Sie nicht, daß des Herrn Leben uns in der Schrift zum Vorbild ge¬
geben ist? Ich fand dort nichts von Lustbarkeiten, nichts von Kirchweihtänzcn."
Diesen: Vikar ist die Welt ein Zuchthaus, in welchem man sich für das Jenseits
vorzubereiten hat; eine Krankheit, eine Blatternepidemie schickt Gott, um die
Erlösung zu beschleunigen, zur Buße zu mahnen. Dieser Vikar ist so verrannt
in seine Glaubenslehre, daß nicht die beispielgebende Milde seines ältern Pfarrers,
noch der Spott andersdenkender, noch die Verweise der ihm vorgesetzten Obrigkeit
ihn stutzig machen können. Er fühlt sich unmittelbar berufen, für den Glauben
zu kämpfen, die Menschheit zur Buße zu mahnen, und weil er wirklich so ehrlich
ist, die strenge Pflichterfüllung, welche er von andern fordert, zunächst selbst
aufopfernd zu üben, haben die Leute Achtung vor ihm. Sie hören auch seine
Predigten an, nicht weil sie einverstanden sind, sondern weil sie sich gern von
ihnen ergreifen lassen, weil sie dabei nicht einschlafen müssen. Im übrige" aber
thun sie ihren eignen Willen: sie feiern die Kirchweih nach altem Herkommen
mit Tanzen und Trinken, trotz der Gegenrede des Vikars, und da dieser seinen
Bekehrungseifer auch so weit treibt, ins Wirtshaus zu gehen, wo auch noch am
Montag Kirchweih ist, da rufen sie ihm zu: "Bleib du in der Kirche, Pfaffe!
Dort wollen wir dich hören, nicht hier!" Aber Brieeius läßt sich nicht wankend
machen. Als ein andrer dabei von einem Schlage schwer getroffen wird, der
ihm zugedacht war, da denkt er: "Für das Reich Gottes war es doch besser,
wie es geschehen," und setzt sein apostolisches Werk unerschüttert fort. Ein alter
Sünder stirbt mit blasphemischen Worten auf den Lippen, obgleich Brieeius
ihm zugesetzt hat, zu bereuen -- Brieeius bleibt fest im Vertrauen auf feinen
Glauben. Zuweilen wohl wird ihm bange vor sich selbst, wie weit ihn sein
Pflichtgefühl wohl treiben werde: auch er fürchtet, daß ihm sein eigner Dämon
über den Kopf wachsen werde. Und er reißt ihn auch weiter, als er geahnt
hat. Hat er nicht jenen Sünder auf dem Totenbette retten können, so fühlt
er sich "verpflichtet," dessen Tochter Blandine, ein schönes, aber leichtfertiges
Mädchen zu retten, welches -- eine Gefallene -- in der Gefahr steht, ganz
unterzugehen; zu retten dadurch, daß er selbst sie heiratet, weil kein andrer
Mann, wie schon Hebbel ausgeführt hat, darüber hinweg kann; sie zu heiraten,
obgleich er selbst eine andre liebt und weiß, daß diese auch ihn lieb hat; ver¬
pflichtet fühlt er sich, die Gefallene zu ehelichen, obgleich ihm dadurch seine
geistliche Laufbahn weiterhin abgeschnitten wird und er ans diesem Stande aus¬
treten muß.

Er verläßt also die Kanzel und besteigt das Katheder, er wird Gymnasial¬
lehrer und Publizist im Dienste der orthodoxen Partei. Nun fällt auch von
seinem Wesen die mystisch-kirchliche Hülle, und es steht da als nackter, ver¬
körperter kategorischer Imperativ. Er ist der Schrecken seiner Schüler und der
ungemütliche Kollege der Professoren; seine Artikel machen durch eine schneidige
Schreibart, eine starre, unerbittliche Konsequenz böses Blut. Die aus Pflicht-


Wissen Sie nicht, daß des Herrn Leben uns in der Schrift zum Vorbild ge¬
geben ist? Ich fand dort nichts von Lustbarkeiten, nichts von Kirchweihtänzcn."
Diesen: Vikar ist die Welt ein Zuchthaus, in welchem man sich für das Jenseits
vorzubereiten hat; eine Krankheit, eine Blatternepidemie schickt Gott, um die
Erlösung zu beschleunigen, zur Buße zu mahnen. Dieser Vikar ist so verrannt
in seine Glaubenslehre, daß nicht die beispielgebende Milde seines ältern Pfarrers,
noch der Spott andersdenkender, noch die Verweise der ihm vorgesetzten Obrigkeit
ihn stutzig machen können. Er fühlt sich unmittelbar berufen, für den Glauben
zu kämpfen, die Menschheit zur Buße zu mahnen, und weil er wirklich so ehrlich
ist, die strenge Pflichterfüllung, welche er von andern fordert, zunächst selbst
aufopfernd zu üben, haben die Leute Achtung vor ihm. Sie hören auch seine
Predigten an, nicht weil sie einverstanden sind, sondern weil sie sich gern von
ihnen ergreifen lassen, weil sie dabei nicht einschlafen müssen. Im übrige» aber
thun sie ihren eignen Willen: sie feiern die Kirchweih nach altem Herkommen
mit Tanzen und Trinken, trotz der Gegenrede des Vikars, und da dieser seinen
Bekehrungseifer auch so weit treibt, ins Wirtshaus zu gehen, wo auch noch am
Montag Kirchweih ist, da rufen sie ihm zu: „Bleib du in der Kirche, Pfaffe!
Dort wollen wir dich hören, nicht hier!" Aber Brieeius läßt sich nicht wankend
machen. Als ein andrer dabei von einem Schlage schwer getroffen wird, der
ihm zugedacht war, da denkt er: „Für das Reich Gottes war es doch besser,
wie es geschehen," und setzt sein apostolisches Werk unerschüttert fort. Ein alter
Sünder stirbt mit blasphemischen Worten auf den Lippen, obgleich Brieeius
ihm zugesetzt hat, zu bereuen — Brieeius bleibt fest im Vertrauen auf feinen
Glauben. Zuweilen wohl wird ihm bange vor sich selbst, wie weit ihn sein
Pflichtgefühl wohl treiben werde: auch er fürchtet, daß ihm sein eigner Dämon
über den Kopf wachsen werde. Und er reißt ihn auch weiter, als er geahnt
hat. Hat er nicht jenen Sünder auf dem Totenbette retten können, so fühlt
er sich „verpflichtet," dessen Tochter Blandine, ein schönes, aber leichtfertiges
Mädchen zu retten, welches — eine Gefallene — in der Gefahr steht, ganz
unterzugehen; zu retten dadurch, daß er selbst sie heiratet, weil kein andrer
Mann, wie schon Hebbel ausgeführt hat, darüber hinweg kann; sie zu heiraten,
obgleich er selbst eine andre liebt und weiß, daß diese auch ihn lieb hat; ver¬
pflichtet fühlt er sich, die Gefallene zu ehelichen, obgleich ihm dadurch seine
geistliche Laufbahn weiterhin abgeschnitten wird und er ans diesem Stande aus¬
treten muß.

Er verläßt also die Kanzel und besteigt das Katheder, er wird Gymnasial¬
lehrer und Publizist im Dienste der orthodoxen Partei. Nun fällt auch von
seinem Wesen die mystisch-kirchliche Hülle, und es steht da als nackter, ver¬
körperter kategorischer Imperativ. Er ist der Schrecken seiner Schüler und der
ungemütliche Kollege der Professoren; seine Artikel machen durch eine schneidige
Schreibart, eine starre, unerbittliche Konsequenz böses Blut. Die aus Pflicht-


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[0224] Wissen Sie nicht, daß des Herrn Leben uns in der Schrift zum Vorbild ge¬ geben ist? Ich fand dort nichts von Lustbarkeiten, nichts von Kirchweihtänzcn." Diesen: Vikar ist die Welt ein Zuchthaus, in welchem man sich für das Jenseits vorzubereiten hat; eine Krankheit, eine Blatternepidemie schickt Gott, um die Erlösung zu beschleunigen, zur Buße zu mahnen. Dieser Vikar ist so verrannt in seine Glaubenslehre, daß nicht die beispielgebende Milde seines ältern Pfarrers, noch der Spott andersdenkender, noch die Verweise der ihm vorgesetzten Obrigkeit ihn stutzig machen können. Er fühlt sich unmittelbar berufen, für den Glauben zu kämpfen, die Menschheit zur Buße zu mahnen, und weil er wirklich so ehrlich ist, die strenge Pflichterfüllung, welche er von andern fordert, zunächst selbst aufopfernd zu üben, haben die Leute Achtung vor ihm. Sie hören auch seine Predigten an, nicht weil sie einverstanden sind, sondern weil sie sich gern von ihnen ergreifen lassen, weil sie dabei nicht einschlafen müssen. Im übrige» aber thun sie ihren eignen Willen: sie feiern die Kirchweih nach altem Herkommen mit Tanzen und Trinken, trotz der Gegenrede des Vikars, und da dieser seinen Bekehrungseifer auch so weit treibt, ins Wirtshaus zu gehen, wo auch noch am Montag Kirchweih ist, da rufen sie ihm zu: „Bleib du in der Kirche, Pfaffe! Dort wollen wir dich hören, nicht hier!" Aber Brieeius läßt sich nicht wankend machen. Als ein andrer dabei von einem Schlage schwer getroffen wird, der ihm zugedacht war, da denkt er: „Für das Reich Gottes war es doch besser, wie es geschehen," und setzt sein apostolisches Werk unerschüttert fort. Ein alter Sünder stirbt mit blasphemischen Worten auf den Lippen, obgleich Brieeius ihm zugesetzt hat, zu bereuen — Brieeius bleibt fest im Vertrauen auf feinen Glauben. Zuweilen wohl wird ihm bange vor sich selbst, wie weit ihn sein Pflichtgefühl wohl treiben werde: auch er fürchtet, daß ihm sein eigner Dämon über den Kopf wachsen werde. Und er reißt ihn auch weiter, als er geahnt hat. Hat er nicht jenen Sünder auf dem Totenbette retten können, so fühlt er sich „verpflichtet," dessen Tochter Blandine, ein schönes, aber leichtfertiges Mädchen zu retten, welches — eine Gefallene — in der Gefahr steht, ganz unterzugehen; zu retten dadurch, daß er selbst sie heiratet, weil kein andrer Mann, wie schon Hebbel ausgeführt hat, darüber hinweg kann; sie zu heiraten, obgleich er selbst eine andre liebt und weiß, daß diese auch ihn lieb hat; ver¬ pflichtet fühlt er sich, die Gefallene zu ehelichen, obgleich ihm dadurch seine geistliche Laufbahn weiterhin abgeschnitten wird und er ans diesem Stande aus¬ treten muß. Er verläßt also die Kanzel und besteigt das Katheder, er wird Gymnasial¬ lehrer und Publizist im Dienste der orthodoxen Partei. Nun fällt auch von seinem Wesen die mystisch-kirchliche Hülle, und es steht da als nackter, ver¬ körperter kategorischer Imperativ. Er ist der Schrecken seiner Schüler und der ungemütliche Kollege der Professoren; seine Artikel machen durch eine schneidige Schreibart, eine starre, unerbittliche Konsequenz böses Blut. Die aus Pflicht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/224>, abgerufen am 23.07.2024.