Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

zu sein, aller Welt zu helfen: dem Grafen im Schlosse, wenn Ball ist und
Gabriel als guter Musiker zum Tanz so lange aufspielen muß, als die physischen
Kräfte es ihm erlauben; der armen Bäuerin im Dorfe, wenn sie Pflege in ihrer
Krankheit bedarf. Und als ihn das eigne Leiden darnieder wirft, sagt er: "Ach,
mein Lieber, wie unangenehm ist es für unsern Eigenwillen, sich so gedemütigt
zu sehen! Es steckt in uns doch immer die stille Überzeugung: ich will, und
alles muß sich diesem Willen beugen. Es ist nichts damit; -- nichts -- nichts
-- wir sind eben Spreu und Sand -- ein Scherben in der Hand des Töpfers."

Alle diese Motive kommen nun im "Jonas Briecins" wieder, aber wie so
ganz anders ist die Stellung der Verfasserin dazu! Da ist jede Spur von
Sentimentalität überwunden, und aus der novellistischen Absonderlichkeit treten
sie heraus, um die Gestalt eines allgemein menschlichen Problems anzunehmen,
um den Charakter zu einem Typus der Menschheit zu machen. Denn es ist ja
in Wahrheit eine allgemein beobachtete Thatsache, daß junge hochstrebendc
Naturen bei ihrem ersten Eintritt in die praktische Welt die Neigung haben, an
alle Handlungen der andern wie nicht minder an sich selbst einen rigoros sitt¬
liche" Maßstab anzulegen; sie vermeinen, alles thun zu können, und rechnen auch
gern den äußern bösen Zufall zur sittlichen Schuld an, auch das Gefühl der
Verantwortlichkeit gern übertreibend, bis sie im Laufe des Lebens Erfahrungen
sammeln, gedemütigt werden und Nachsicht für die menschliche Schwäche und
Beschränkung lernen. Dies ist die Geschichte des Vikars Jonas Briecius von
Lottersleben.

Auch er ist el" Mann vou großer Energie des Geistes und Willens. Er
besitzt stählerne Nerven. "Er besaß die Gabe, seine Worte klug zu überlegen und
einen Umweg nicht zu scheuen. Er hatte ein außerordentliches Gedächtnis, und
wenn er seine Rede in Australien begann, sah er bereits, wie ein glider Schach¬
spieler, den ganzen Weg bis zum europäischen Endpunkte klar vor sich." Darum
gewinnt er eine merkwürdige Macht über alle, die mit ihm Verkehren; weil er
überreden will, bei dem gelingt es ihm gewiß. Und diese ganze dämonische
Macht seiner Persönlichkeit stellt er in den Dienst seines Glaubens. Und er ist
ein fanatischer Gläubiger. "Ich habe keine andre Kraft in mir, als die meines
Gottes, sagt er einmal, ich weiß nicht, wie man ohne ihn leben kann, doch ich
sehe, daß es ein Elend ist. Ich sehe, wie die Lüge herrscht statt der Wahrheit,
die Feindschaft anstatt der Liebe, und wie die Menschen tot sind mitten im
Leben." Die tiefe Leidenschaft seines Wesens verleiht seinem Glauben eine trotzige
Kraft, wie sie nur die Märtyrer der Vergangenheit gehabt haben mögen, und
man sagt von ihm nicht mit Unrecht, daß er vor dreihundert Jahren ein Hexen¬
richter geworden wäre. Diese Energie seines Charakters führt ihn mich zu der
streng weltentsagcnden Auffassung des Christentums und seines Berufs. Kein
Vergnügen, auch keine Kirchweih darf sich der wahre Christ gönnen. "Wir finden
das Vergnügen in der Sorge um den Nächsten, in der Ausübung unsrer Pflicht.


zu sein, aller Welt zu helfen: dem Grafen im Schlosse, wenn Ball ist und
Gabriel als guter Musiker zum Tanz so lange aufspielen muß, als die physischen
Kräfte es ihm erlauben; der armen Bäuerin im Dorfe, wenn sie Pflege in ihrer
Krankheit bedarf. Und als ihn das eigne Leiden darnieder wirft, sagt er: „Ach,
mein Lieber, wie unangenehm ist es für unsern Eigenwillen, sich so gedemütigt
zu sehen! Es steckt in uns doch immer die stille Überzeugung: ich will, und
alles muß sich diesem Willen beugen. Es ist nichts damit; — nichts — nichts
— wir sind eben Spreu und Sand — ein Scherben in der Hand des Töpfers."

Alle diese Motive kommen nun im „Jonas Briecins" wieder, aber wie so
ganz anders ist die Stellung der Verfasserin dazu! Da ist jede Spur von
Sentimentalität überwunden, und aus der novellistischen Absonderlichkeit treten
sie heraus, um die Gestalt eines allgemein menschlichen Problems anzunehmen,
um den Charakter zu einem Typus der Menschheit zu machen. Denn es ist ja
in Wahrheit eine allgemein beobachtete Thatsache, daß junge hochstrebendc
Naturen bei ihrem ersten Eintritt in die praktische Welt die Neigung haben, an
alle Handlungen der andern wie nicht minder an sich selbst einen rigoros sitt¬
liche» Maßstab anzulegen; sie vermeinen, alles thun zu können, und rechnen auch
gern den äußern bösen Zufall zur sittlichen Schuld an, auch das Gefühl der
Verantwortlichkeit gern übertreibend, bis sie im Laufe des Lebens Erfahrungen
sammeln, gedemütigt werden und Nachsicht für die menschliche Schwäche und
Beschränkung lernen. Dies ist die Geschichte des Vikars Jonas Briecius von
Lottersleben.

Auch er ist el» Mann vou großer Energie des Geistes und Willens. Er
besitzt stählerne Nerven. „Er besaß die Gabe, seine Worte klug zu überlegen und
einen Umweg nicht zu scheuen. Er hatte ein außerordentliches Gedächtnis, und
wenn er seine Rede in Australien begann, sah er bereits, wie ein glider Schach¬
spieler, den ganzen Weg bis zum europäischen Endpunkte klar vor sich." Darum
gewinnt er eine merkwürdige Macht über alle, die mit ihm Verkehren; weil er
überreden will, bei dem gelingt es ihm gewiß. Und diese ganze dämonische
Macht seiner Persönlichkeit stellt er in den Dienst seines Glaubens. Und er ist
ein fanatischer Gläubiger. „Ich habe keine andre Kraft in mir, als die meines
Gottes, sagt er einmal, ich weiß nicht, wie man ohne ihn leben kann, doch ich
sehe, daß es ein Elend ist. Ich sehe, wie die Lüge herrscht statt der Wahrheit,
die Feindschaft anstatt der Liebe, und wie die Menschen tot sind mitten im
Leben." Die tiefe Leidenschaft seines Wesens verleiht seinem Glauben eine trotzige
Kraft, wie sie nur die Märtyrer der Vergangenheit gehabt haben mögen, und
man sagt von ihm nicht mit Unrecht, daß er vor dreihundert Jahren ein Hexen¬
richter geworden wäre. Diese Energie seines Charakters führt ihn mich zu der
streng weltentsagcnden Auffassung des Christentums und seines Berufs. Kein
Vergnügen, auch keine Kirchweih darf sich der wahre Christ gönnen. „Wir finden
das Vergnügen in der Sorge um den Nächsten, in der Ausübung unsrer Pflicht.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198289"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_583" prev="#ID_582"> zu sein, aller Welt zu helfen: dem Grafen im Schlosse, wenn Ball ist und<lb/>
Gabriel als guter Musiker zum Tanz so lange aufspielen muß, als die physischen<lb/>
Kräfte es ihm erlauben; der armen Bäuerin im Dorfe, wenn sie Pflege in ihrer<lb/>
Krankheit bedarf. Und als ihn das eigne Leiden darnieder wirft, sagt er: &#x201E;Ach,<lb/>
mein Lieber, wie unangenehm ist es für unsern Eigenwillen, sich so gedemütigt<lb/>
zu sehen! Es steckt in uns doch immer die stille Überzeugung: ich will, und<lb/>
alles muß sich diesem Willen beugen. Es ist nichts damit; &#x2014; nichts &#x2014; nichts<lb/>
&#x2014; wir sind eben Spreu und Sand &#x2014; ein Scherben in der Hand des Töpfers."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_584"> Alle diese Motive kommen nun im &#x201E;Jonas Briecins" wieder, aber wie so<lb/>
ganz anders ist die Stellung der Verfasserin dazu! Da ist jede Spur von<lb/>
Sentimentalität überwunden, und aus der novellistischen Absonderlichkeit treten<lb/>
sie heraus, um die Gestalt eines allgemein menschlichen Problems anzunehmen,<lb/>
um den Charakter zu einem Typus der Menschheit zu machen. Denn es ist ja<lb/>
in Wahrheit eine allgemein beobachtete Thatsache, daß junge hochstrebendc<lb/>
Naturen bei ihrem ersten Eintritt in die praktische Welt die Neigung haben, an<lb/>
alle Handlungen der andern wie nicht minder an sich selbst einen rigoros sitt¬<lb/>
liche» Maßstab anzulegen; sie vermeinen, alles thun zu können, und rechnen auch<lb/>
gern den äußern bösen Zufall zur sittlichen Schuld an, auch das Gefühl der<lb/>
Verantwortlichkeit gern übertreibend, bis sie im Laufe des Lebens Erfahrungen<lb/>
sammeln, gedemütigt werden und Nachsicht für die menschliche Schwäche und<lb/>
Beschränkung lernen. Dies ist die Geschichte des Vikars Jonas Briecius von<lb/>
Lottersleben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_585" next="#ID_586"> Auch er ist el» Mann vou großer Energie des Geistes und Willens. Er<lb/>
besitzt stählerne Nerven. &#x201E;Er besaß die Gabe, seine Worte klug zu überlegen und<lb/>
einen Umweg nicht zu scheuen. Er hatte ein außerordentliches Gedächtnis, und<lb/>
wenn er seine Rede in Australien begann, sah er bereits, wie ein glider Schach¬<lb/>
spieler, den ganzen Weg bis zum europäischen Endpunkte klar vor sich." Darum<lb/>
gewinnt er eine merkwürdige Macht über alle, die mit ihm Verkehren; weil er<lb/>
überreden will, bei dem gelingt es ihm gewiß. Und diese ganze dämonische<lb/>
Macht seiner Persönlichkeit stellt er in den Dienst seines Glaubens. Und er ist<lb/>
ein fanatischer Gläubiger. &#x201E;Ich habe keine andre Kraft in mir, als die meines<lb/>
Gottes, sagt er einmal, ich weiß nicht, wie man ohne ihn leben kann, doch ich<lb/>
sehe, daß es ein Elend ist. Ich sehe, wie die Lüge herrscht statt der Wahrheit,<lb/>
die Feindschaft anstatt der Liebe, und wie die Menschen tot sind mitten im<lb/>
Leben." Die tiefe Leidenschaft seines Wesens verleiht seinem Glauben eine trotzige<lb/>
Kraft, wie sie nur die Märtyrer der Vergangenheit gehabt haben mögen, und<lb/>
man sagt von ihm nicht mit Unrecht, daß er vor dreihundert Jahren ein Hexen¬<lb/>
richter geworden wäre. Diese Energie seines Charakters führt ihn mich zu der<lb/>
streng weltentsagcnden Auffassung des Christentums und seines Berufs. Kein<lb/>
Vergnügen, auch keine Kirchweih darf sich der wahre Christ gönnen. &#x201E;Wir finden<lb/>
das Vergnügen in der Sorge um den Nächsten, in der Ausübung unsrer Pflicht.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0223] zu sein, aller Welt zu helfen: dem Grafen im Schlosse, wenn Ball ist und Gabriel als guter Musiker zum Tanz so lange aufspielen muß, als die physischen Kräfte es ihm erlauben; der armen Bäuerin im Dorfe, wenn sie Pflege in ihrer Krankheit bedarf. Und als ihn das eigne Leiden darnieder wirft, sagt er: „Ach, mein Lieber, wie unangenehm ist es für unsern Eigenwillen, sich so gedemütigt zu sehen! Es steckt in uns doch immer die stille Überzeugung: ich will, und alles muß sich diesem Willen beugen. Es ist nichts damit; — nichts — nichts — wir sind eben Spreu und Sand — ein Scherben in der Hand des Töpfers." Alle diese Motive kommen nun im „Jonas Briecins" wieder, aber wie so ganz anders ist die Stellung der Verfasserin dazu! Da ist jede Spur von Sentimentalität überwunden, und aus der novellistischen Absonderlichkeit treten sie heraus, um die Gestalt eines allgemein menschlichen Problems anzunehmen, um den Charakter zu einem Typus der Menschheit zu machen. Denn es ist ja in Wahrheit eine allgemein beobachtete Thatsache, daß junge hochstrebendc Naturen bei ihrem ersten Eintritt in die praktische Welt die Neigung haben, an alle Handlungen der andern wie nicht minder an sich selbst einen rigoros sitt¬ liche» Maßstab anzulegen; sie vermeinen, alles thun zu können, und rechnen auch gern den äußern bösen Zufall zur sittlichen Schuld an, auch das Gefühl der Verantwortlichkeit gern übertreibend, bis sie im Laufe des Lebens Erfahrungen sammeln, gedemütigt werden und Nachsicht für die menschliche Schwäche und Beschränkung lernen. Dies ist die Geschichte des Vikars Jonas Briecius von Lottersleben. Auch er ist el» Mann vou großer Energie des Geistes und Willens. Er besitzt stählerne Nerven. „Er besaß die Gabe, seine Worte klug zu überlegen und einen Umweg nicht zu scheuen. Er hatte ein außerordentliches Gedächtnis, und wenn er seine Rede in Australien begann, sah er bereits, wie ein glider Schach¬ spieler, den ganzen Weg bis zum europäischen Endpunkte klar vor sich." Darum gewinnt er eine merkwürdige Macht über alle, die mit ihm Verkehren; weil er überreden will, bei dem gelingt es ihm gewiß. Und diese ganze dämonische Macht seiner Persönlichkeit stellt er in den Dienst seines Glaubens. Und er ist ein fanatischer Gläubiger. „Ich habe keine andre Kraft in mir, als die meines Gottes, sagt er einmal, ich weiß nicht, wie man ohne ihn leben kann, doch ich sehe, daß es ein Elend ist. Ich sehe, wie die Lüge herrscht statt der Wahrheit, die Feindschaft anstatt der Liebe, und wie die Menschen tot sind mitten im Leben." Die tiefe Leidenschaft seines Wesens verleiht seinem Glauben eine trotzige Kraft, wie sie nur die Märtyrer der Vergangenheit gehabt haben mögen, und man sagt von ihm nicht mit Unrecht, daß er vor dreihundert Jahren ein Hexen¬ richter geworden wäre. Diese Energie seines Charakters führt ihn mich zu der streng weltentsagcnden Auffassung des Christentums und seines Berufs. Kein Vergnügen, auch keine Kirchweih darf sich der wahre Christ gönnen. „Wir finden das Vergnügen in der Sorge um den Nächsten, in der Ausübung unsrer Pflicht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/223
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/223>, abgerufen am 26.08.2024.