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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

der brave Schmied Max Schropper doch nichts andres zu thun vermag, als
am Schlüsse zu seiner armen, schmerzlich gebeugten Braut hinzugehen und ehrlich
einzustehen für die Lage, die er sich in der Wallung seines Blutes geschaffen hat,
wenn selbst der unfehlbare Doktor Gnrlinger, der mit aller Stärke und Rück¬
sichtslosigkeit seinem Volke so Wichtiges mitzuteilen hat, daß "alle Mittel der
Liebe und Aufopferung geboten sind, ihm volle Unabhängigkeit zu sichern," an einer
klugen, an geistigen und materiellen Schätzen reichen Frau eine heldenhafte Mit¬
kämpferin gewinnt, wodurch unterscheidet sich denn diese neue Welt von der so
tief verachteten seitherigen? Was geschieht in ihr, was nicht in der Welt der
"Philister," der aufs tiefste verachteten "anständigen" oder gar idealistischen
Menschen, auch geschehen könnte? Lohnt es der Mühe, die Augen gegen alle
Schönheit, allen feineren Neiz des Daseins zu verschließen, wenn nach so ener¬
gischer Bevorzugung des Häßlichen, nach so starkgcistiger und gelegentlich brutaler
Betonung der widerwärtigsten und abstoßendsten Erscheinungen ein paar glück¬
liche, von warmem Gefühl, von mutiger Selbstverleugnung und Opferfähigkeit
durchleuchte Momente, ein paar gesunde und menschlich maßvolle Gestalten
doch das Beste sind, was der radikale Schriftsteller zu bieten vermag? Wie
vollständig oder unvollständig Conrad das Leben der heitern Kunststadt ge¬
spiegelt hat, brauchte den unbefangnen Leser nicht zu kümmern, wenn sich der
Erzähler darauf beschränkte, sein Recht, mit eignen Augen zu sehen, in Anspruch
zu nehmen. In dem Augenblicke, wo die ihm eigentümliche Art der Anschauung
und der Darstellung als die alleinseligmachende verkündet, und der ganzen Ent¬
wicklung unsrer Literatur zum Trotz als die einzig zukunftreiche verkündet wird,
ergiebt sich ein andrer Maßstab. Caravaggio, der für das Ungestüm seiner
Leidenschaft, für die Eigenart seiner Beleuchtung, für die Energie und Schärfe
seiner Zeichnung Raum und Beachtung begehrt, ist in seinem guten Rechte;
Caravaggio, welcher Rcifacl einen Pfuscher schilt und seine Zeitgenossen Guido
Reni, Domenichino und Albani als lügnerische und konventionelle Schönmaler
brandmarkt, erscheint absurd. Aber dergleichen naheliegende Betrachtungen gelten
natürlich sür eine Schule nicht, mit welcher das tausendjährige Reich einer neuen
und nie dagewesenen Literatur beginnen wird. Sehen wir uns also die übrigen
deutschen Vertreter dieser Schule, von der emphatisch bereits behauptet wird, sie
und sie allein vertrete die von Goethe prophezeite Weltliteratur, des weiteren an.




Die naturalistische Schule in Deutschland.

der brave Schmied Max Schropper doch nichts andres zu thun vermag, als
am Schlüsse zu seiner armen, schmerzlich gebeugten Braut hinzugehen und ehrlich
einzustehen für die Lage, die er sich in der Wallung seines Blutes geschaffen hat,
wenn selbst der unfehlbare Doktor Gnrlinger, der mit aller Stärke und Rück¬
sichtslosigkeit seinem Volke so Wichtiges mitzuteilen hat, daß „alle Mittel der
Liebe und Aufopferung geboten sind, ihm volle Unabhängigkeit zu sichern," an einer
klugen, an geistigen und materiellen Schätzen reichen Frau eine heldenhafte Mit¬
kämpferin gewinnt, wodurch unterscheidet sich denn diese neue Welt von der so
tief verachteten seitherigen? Was geschieht in ihr, was nicht in der Welt der
„Philister," der aufs tiefste verachteten „anständigen" oder gar idealistischen
Menschen, auch geschehen könnte? Lohnt es der Mühe, die Augen gegen alle
Schönheit, allen feineren Neiz des Daseins zu verschließen, wenn nach so ener¬
gischer Bevorzugung des Häßlichen, nach so starkgcistiger und gelegentlich brutaler
Betonung der widerwärtigsten und abstoßendsten Erscheinungen ein paar glück¬
liche, von warmem Gefühl, von mutiger Selbstverleugnung und Opferfähigkeit
durchleuchte Momente, ein paar gesunde und menschlich maßvolle Gestalten
doch das Beste sind, was der radikale Schriftsteller zu bieten vermag? Wie
vollständig oder unvollständig Conrad das Leben der heitern Kunststadt ge¬
spiegelt hat, brauchte den unbefangnen Leser nicht zu kümmern, wenn sich der
Erzähler darauf beschränkte, sein Recht, mit eignen Augen zu sehen, in Anspruch
zu nehmen. In dem Augenblicke, wo die ihm eigentümliche Art der Anschauung
und der Darstellung als die alleinseligmachende verkündet, und der ganzen Ent¬
wicklung unsrer Literatur zum Trotz als die einzig zukunftreiche verkündet wird,
ergiebt sich ein andrer Maßstab. Caravaggio, der für das Ungestüm seiner
Leidenschaft, für die Eigenart seiner Beleuchtung, für die Energie und Schärfe
seiner Zeichnung Raum und Beachtung begehrt, ist in seinem guten Rechte;
Caravaggio, welcher Rcifacl einen Pfuscher schilt und seine Zeitgenossen Guido
Reni, Domenichino und Albani als lügnerische und konventionelle Schönmaler
brandmarkt, erscheint absurd. Aber dergleichen naheliegende Betrachtungen gelten
natürlich sür eine Schule nicht, mit welcher das tausendjährige Reich einer neuen
und nie dagewesenen Literatur beginnen wird. Sehen wir uns also die übrigen
deutschen Vertreter dieser Schule, von der emphatisch bereits behauptet wird, sie
und sie allein vertrete die von Goethe prophezeite Weltliteratur, des weiteren an.




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[0192] Die naturalistische Schule in Deutschland. der brave Schmied Max Schropper doch nichts andres zu thun vermag, als am Schlüsse zu seiner armen, schmerzlich gebeugten Braut hinzugehen und ehrlich einzustehen für die Lage, die er sich in der Wallung seines Blutes geschaffen hat, wenn selbst der unfehlbare Doktor Gnrlinger, der mit aller Stärke und Rück¬ sichtslosigkeit seinem Volke so Wichtiges mitzuteilen hat, daß „alle Mittel der Liebe und Aufopferung geboten sind, ihm volle Unabhängigkeit zu sichern," an einer klugen, an geistigen und materiellen Schätzen reichen Frau eine heldenhafte Mit¬ kämpferin gewinnt, wodurch unterscheidet sich denn diese neue Welt von der so tief verachteten seitherigen? Was geschieht in ihr, was nicht in der Welt der „Philister," der aufs tiefste verachteten „anständigen" oder gar idealistischen Menschen, auch geschehen könnte? Lohnt es der Mühe, die Augen gegen alle Schönheit, allen feineren Neiz des Daseins zu verschließen, wenn nach so ener¬ gischer Bevorzugung des Häßlichen, nach so starkgcistiger und gelegentlich brutaler Betonung der widerwärtigsten und abstoßendsten Erscheinungen ein paar glück¬ liche, von warmem Gefühl, von mutiger Selbstverleugnung und Opferfähigkeit durchleuchte Momente, ein paar gesunde und menschlich maßvolle Gestalten doch das Beste sind, was der radikale Schriftsteller zu bieten vermag? Wie vollständig oder unvollständig Conrad das Leben der heitern Kunststadt ge¬ spiegelt hat, brauchte den unbefangnen Leser nicht zu kümmern, wenn sich der Erzähler darauf beschränkte, sein Recht, mit eignen Augen zu sehen, in Anspruch zu nehmen. In dem Augenblicke, wo die ihm eigentümliche Art der Anschauung und der Darstellung als die alleinseligmachende verkündet, und der ganzen Ent¬ wicklung unsrer Literatur zum Trotz als die einzig zukunftreiche verkündet wird, ergiebt sich ein andrer Maßstab. Caravaggio, der für das Ungestüm seiner Leidenschaft, für die Eigenart seiner Beleuchtung, für die Energie und Schärfe seiner Zeichnung Raum und Beachtung begehrt, ist in seinem guten Rechte; Caravaggio, welcher Rcifacl einen Pfuscher schilt und seine Zeitgenossen Guido Reni, Domenichino und Albani als lügnerische und konventionelle Schönmaler brandmarkt, erscheint absurd. Aber dergleichen naheliegende Betrachtungen gelten natürlich sür eine Schule nicht, mit welcher das tausendjährige Reich einer neuen und nie dagewesenen Literatur beginnen wird. Sehen wir uns also die übrigen deutschen Vertreter dieser Schule, von der emphatisch bereits behauptet wird, sie und sie allein vertrete die von Goethe prophezeite Weltliteratur, des weiteren an.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/192>, abgerufen am 04.07.2024.