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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

hereinbricht. An demselben Tage, an dem Meister Florian zu Ehren der fröh¬
lichen dreißig Jahre, in denen er in der goldnen Schmiede am Ambos gestanden,
eigenhändig eine Gedächtnistafel errichten und von dem geistlichen Sohne den
Segen über dieselbe sprechen lassen will, stellt die Spitzedersche Schwindelbank
ihre Zahlungen ein, stirbt draußen in Giesiug der herzige Bube des Schmiede-
gesellen Max Schroppcr und seiner Liebsten Ursula Deixlhofer und treibt der
ehrwürdige Joseph Florian eine der vielen tröst- und liebebedürftigen Frauen,
die sich an den geistlichen Ratgeber anklammern, dnrch seine kühle Abweisung
in den Tod in die Wellen der Jsar. Die Verknüpfung der Novelle läßt viel
zu wünschen übrig, allein immerhin ist Leben, Geist und feinere Beobachtung in
derselben, die Gestalten des alten Meisters Florian, des ältern Sohnes Max
und des jungen Priesters treten uus deutlich entgegen und halten dem Blick in
ihr inneres Leben Stand. Die der "Goldner Schmiede" folgende Erzählung
oder Skizze "Der Rechte" scheint uur den Zweck zu haben, die Personen der
frühern Novellen, welche noch nicht gestorben sind, einige Jahre später vorzu¬
führen. Dem naturalistischen Heißsporn Gregor Knöbclseder begegnen wir dabei
als Heiligenbildmaler, der in einem wunderlich unnennbaren Verhältnis zu Fräulein
von Hutzler, der Wagnerianerin der "Marianna," steht, dem Kommerzienrat
Bluuzcumeyer als ausgedientem Podagristen.Ehrwiirden Joseph Florian Schropper
als bischöflichen Rat nud erwählten Rüstzeug der streitenden Kirche. Der
einstige Damenprcdiger unterhält uach dieser Seite des Lebens keine Beziehungen
mehr, sondern lebt ausschließlich der polemischen Publizistik. In dem letzten
Nachtstück "Die Stimme des Blutes," einer schauerlichen Episode aus einer
Proletarierche, in welcher der Mann, Balzer, der "trinkbare" Veteran des großen
Krieges von 1870, berauscht in das Haus taumelt, während seine unglückliche
Frau am Sterbette des jüngsten und geliebtesten Kindes verzweifelt, erkennen
wir schließlich selbst die Kellnerin Franziska aus dem Hofgarten wieder, die
Tochter Gregors und der mehrerwähnten Kuhmagd von Fcldmoching. Die
Intention Conrads, die Erzählungen und Skizzen durch gewisse Einzelmomente
zu verbinden, den Zusammenhang hundert scheinbar zusammenhangsloser Er¬
scheinungen nachzuweisen, kommt hierin zu Recht, nud man könnte selbst wünschen,
daß dies Element des Gemeinsamen die Münchner Novellen noch stärker durch¬
flutete.

Alles in allem aber -- wie verhält sich uun Lebensgehalt und Darstcllungs-
kunst dieses bis jetzt besten Buches der naturalistischen Schule zu den Ansprüchen,
welche der Naturalismus erhebt? Wie und wo eröffnen diese Novellen den
Blick in seither ungekannte oder auch nur unbeachtet gebliebne Gebiete des mo¬
dernen Lebens? Wodurch rechtfertigen sie die Behauptung, daß der Blick der
Naturalisten der Zukunft zugewandt sei und eine veränderte Anschauung des
ganzen menschlichen Daseins, der Menschennaturen, ihres Thun und Lassens,
ihrer Verantwortlichkeit hervorrufen? Wenn in der besten Geschichte des Bandes


Die naturalistische Schule in Deutschland.

hereinbricht. An demselben Tage, an dem Meister Florian zu Ehren der fröh¬
lichen dreißig Jahre, in denen er in der goldnen Schmiede am Ambos gestanden,
eigenhändig eine Gedächtnistafel errichten und von dem geistlichen Sohne den
Segen über dieselbe sprechen lassen will, stellt die Spitzedersche Schwindelbank
ihre Zahlungen ein, stirbt draußen in Giesiug der herzige Bube des Schmiede-
gesellen Max Schroppcr und seiner Liebsten Ursula Deixlhofer und treibt der
ehrwürdige Joseph Florian eine der vielen tröst- und liebebedürftigen Frauen,
die sich an den geistlichen Ratgeber anklammern, dnrch seine kühle Abweisung
in den Tod in die Wellen der Jsar. Die Verknüpfung der Novelle läßt viel
zu wünschen übrig, allein immerhin ist Leben, Geist und feinere Beobachtung in
derselben, die Gestalten des alten Meisters Florian, des ältern Sohnes Max
und des jungen Priesters treten uus deutlich entgegen und halten dem Blick in
ihr inneres Leben Stand. Die der „Goldner Schmiede" folgende Erzählung
oder Skizze „Der Rechte" scheint uur den Zweck zu haben, die Personen der
frühern Novellen, welche noch nicht gestorben sind, einige Jahre später vorzu¬
führen. Dem naturalistischen Heißsporn Gregor Knöbclseder begegnen wir dabei
als Heiligenbildmaler, der in einem wunderlich unnennbaren Verhältnis zu Fräulein
von Hutzler, der Wagnerianerin der „Marianna," steht, dem Kommerzienrat
Bluuzcumeyer als ausgedientem Podagristen.Ehrwiirden Joseph Florian Schropper
als bischöflichen Rat nud erwählten Rüstzeug der streitenden Kirche. Der
einstige Damenprcdiger unterhält uach dieser Seite des Lebens keine Beziehungen
mehr, sondern lebt ausschließlich der polemischen Publizistik. In dem letzten
Nachtstück „Die Stimme des Blutes," einer schauerlichen Episode aus einer
Proletarierche, in welcher der Mann, Balzer, der „trinkbare" Veteran des großen
Krieges von 1870, berauscht in das Haus taumelt, während seine unglückliche
Frau am Sterbette des jüngsten und geliebtesten Kindes verzweifelt, erkennen
wir schließlich selbst die Kellnerin Franziska aus dem Hofgarten wieder, die
Tochter Gregors und der mehrerwähnten Kuhmagd von Fcldmoching. Die
Intention Conrads, die Erzählungen und Skizzen durch gewisse Einzelmomente
zu verbinden, den Zusammenhang hundert scheinbar zusammenhangsloser Er¬
scheinungen nachzuweisen, kommt hierin zu Recht, nud man könnte selbst wünschen,
daß dies Element des Gemeinsamen die Münchner Novellen noch stärker durch¬
flutete.

Alles in allem aber — wie verhält sich uun Lebensgehalt und Darstcllungs-
kunst dieses bis jetzt besten Buches der naturalistischen Schule zu den Ansprüchen,
welche der Naturalismus erhebt? Wie und wo eröffnen diese Novellen den
Blick in seither ungekannte oder auch nur unbeachtet gebliebne Gebiete des mo¬
dernen Lebens? Wodurch rechtfertigen sie die Behauptung, daß der Blick der
Naturalisten der Zukunft zugewandt sei und eine veränderte Anschauung des
ganzen menschlichen Daseins, der Menschennaturen, ihres Thun und Lassens,
ihrer Verantwortlichkeit hervorrufen? Wenn in der besten Geschichte des Bandes


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[0191] Die naturalistische Schule in Deutschland. hereinbricht. An demselben Tage, an dem Meister Florian zu Ehren der fröh¬ lichen dreißig Jahre, in denen er in der goldnen Schmiede am Ambos gestanden, eigenhändig eine Gedächtnistafel errichten und von dem geistlichen Sohne den Segen über dieselbe sprechen lassen will, stellt die Spitzedersche Schwindelbank ihre Zahlungen ein, stirbt draußen in Giesiug der herzige Bube des Schmiede- gesellen Max Schroppcr und seiner Liebsten Ursula Deixlhofer und treibt der ehrwürdige Joseph Florian eine der vielen tröst- und liebebedürftigen Frauen, die sich an den geistlichen Ratgeber anklammern, dnrch seine kühle Abweisung in den Tod in die Wellen der Jsar. Die Verknüpfung der Novelle läßt viel zu wünschen übrig, allein immerhin ist Leben, Geist und feinere Beobachtung in derselben, die Gestalten des alten Meisters Florian, des ältern Sohnes Max und des jungen Priesters treten uus deutlich entgegen und halten dem Blick in ihr inneres Leben Stand. Die der „Goldner Schmiede" folgende Erzählung oder Skizze „Der Rechte" scheint uur den Zweck zu haben, die Personen der frühern Novellen, welche noch nicht gestorben sind, einige Jahre später vorzu¬ führen. Dem naturalistischen Heißsporn Gregor Knöbclseder begegnen wir dabei als Heiligenbildmaler, der in einem wunderlich unnennbaren Verhältnis zu Fräulein von Hutzler, der Wagnerianerin der „Marianna," steht, dem Kommerzienrat Bluuzcumeyer als ausgedientem Podagristen.Ehrwiirden Joseph Florian Schropper als bischöflichen Rat nud erwählten Rüstzeug der streitenden Kirche. Der einstige Damenprcdiger unterhält uach dieser Seite des Lebens keine Beziehungen mehr, sondern lebt ausschließlich der polemischen Publizistik. In dem letzten Nachtstück „Die Stimme des Blutes," einer schauerlichen Episode aus einer Proletarierche, in welcher der Mann, Balzer, der „trinkbare" Veteran des großen Krieges von 1870, berauscht in das Haus taumelt, während seine unglückliche Frau am Sterbette des jüngsten und geliebtesten Kindes verzweifelt, erkennen wir schließlich selbst die Kellnerin Franziska aus dem Hofgarten wieder, die Tochter Gregors und der mehrerwähnten Kuhmagd von Fcldmoching. Die Intention Conrads, die Erzählungen und Skizzen durch gewisse Einzelmomente zu verbinden, den Zusammenhang hundert scheinbar zusammenhangsloser Er¬ scheinungen nachzuweisen, kommt hierin zu Recht, nud man könnte selbst wünschen, daß dies Element des Gemeinsamen die Münchner Novellen noch stärker durch¬ flutete. Alles in allem aber — wie verhält sich uun Lebensgehalt und Darstcllungs- kunst dieses bis jetzt besten Buches der naturalistischen Schule zu den Ansprüchen, welche der Naturalismus erhebt? Wie und wo eröffnen diese Novellen den Blick in seither ungekannte oder auch nur unbeachtet gebliebne Gebiete des mo¬ dernen Lebens? Wodurch rechtfertigen sie die Behauptung, daß der Blick der Naturalisten der Zukunft zugewandt sei und eine veränderte Anschauung des ganzen menschlichen Daseins, der Menschennaturen, ihres Thun und Lassens, ihrer Verantwortlichkeit hervorrufen? Wenn in der besten Geschichte des Bandes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/191>, abgerufen am 04.07.2024.