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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

füllen, aber Studium, Beobachtung, Analyse und wie die Schlagworte sonst
lauten, erfordern sie wahrlich nicht, sie können von dem oberflächlichsten Darsteller
mit leidlich gesunden Augen von der Gasse gegriffen werden. Und wenn noch
ein paar Dutzend solcher Charaktere durch die Münchner Novellen stolzirtcn,
was wäre da groß Aufhebens von künstlerischer Gewissenhaftigkeit zu machen!
Es ist wahr, daß die Venus von Feldmoching nicht eine bloße episodische Rück¬
sichtslosigkeit des Verfassers ist, sondern die Voraussetzung zu der spätern
Novelle "Ein Schicksal" bildet, in der Gregor Knöbelseder, der Verschollene und
Totgesagte, nach München zurückkehrt und unter den Kellnerinnen des Hof¬
gartens heilt und der Kuhmagd von Feldmoching Kind entdeckt. In der Schick
salswendnng, wonach der Unselige, welcher sich an der Pflicht für sein Kind
emporzuraffen und zu neuem Leben zu stählen gedenkt, als vermeintlicher Ver¬
brecher verhaftet wird, steckt ein Stück ergreifenden Lebens, über welches freilich
wiederum die naturalistische Studie -- das nächtliche Gespräch der Schenk¬
mädchen in dem Bodenraume, in welchem sie schlafen -- ihre Schatten wirft.
Doch zum Zolafchen Pathos, welches jede andre Art der Darstellung für
himmelblaue Lüge erklärt, ist hier wahrlich überall kein Anlaß,

Jmpvnirender erscheint uns, nicht das Prinzip, aber das wirkliche Talent
Conrads in der Novelle "Die goldne Schmiede," einer Geschichte, welche die
goldne Zeit der Spitzcderschcn Bankherrschaft zum Hintergrund hat. Das glücklich
ergriffene Motiv dieser vermeinten goldnen Schmiede ist übrigens nicht genügend
ausgestaltet. Die wirkliche goldne Schmiede im Eckhaus der Sentlinger- und
Paradiesgasse aber, in welcher Meister Florian Schrvpper mit seiner Frau
Anastasia und seinem Sohne, dem kräftigen Schmiede Max, haust, ist ein Münchner
Bürgerhaus im ältern Stil. Die Mutter hat es durchgesetzt, daß der zweite
Sohn Joseph zum Priester erzogen worden ist, und "eine glückliche, beneidenswert
glückliche Familie, Söhne, die außerordentlich geraten sind, Arbeit, Wohlstand,
Eintracht im Hause -- wahrhaftig die goldne Schmiede des Glücks am Paradies¬
gasseneck." Hinter diesem Schein lauern die schlimmen Wahrheiten, daß der
ältere Sohn Max einen schweren Fehltritt auf dem Gewissen und außerdem in
Gemeinschaft mit der thörichten Mutter das große Privatvermögen der Familie
in den Schlund der Dachauer Bank geworfen hat. Noch bevor er auf die
Wanderschaft ging, hat er sich mit Ursula Deixlhofer, der Tochter eines ent¬
fernten und übel beleumundeten Vetters in Giesing, in ein Liebesverhältnis
eingelassen, dem ein Kind entsprungen ist. Während der Schmiedegesell über
die Möglichkeit sinnt, das schlimme Geheimnis zu offenbaren, und Monate und
Jahre verstreichen läßt, in denen sein Knabe heranwächst, während inzwischen
sein geistlicher Bruder Joseph Florian zu einem beliebten Prediger und viel¬
gesuchten Beichtvater, dem echten, modernen Priester der streitbaren Kirche in dem
komplizirten Grvßstadtleben, emporsteigt, bereitet sich die Katastrophe vor, die
plötzlich und mit einem Schlage über das glückliche und vielbeneidete Haus


Die naturalistische Schule in Deutschland.

füllen, aber Studium, Beobachtung, Analyse und wie die Schlagworte sonst
lauten, erfordern sie wahrlich nicht, sie können von dem oberflächlichsten Darsteller
mit leidlich gesunden Augen von der Gasse gegriffen werden. Und wenn noch
ein paar Dutzend solcher Charaktere durch die Münchner Novellen stolzirtcn,
was wäre da groß Aufhebens von künstlerischer Gewissenhaftigkeit zu machen!
Es ist wahr, daß die Venus von Feldmoching nicht eine bloße episodische Rück¬
sichtslosigkeit des Verfassers ist, sondern die Voraussetzung zu der spätern
Novelle „Ein Schicksal" bildet, in der Gregor Knöbelseder, der Verschollene und
Totgesagte, nach München zurückkehrt und unter den Kellnerinnen des Hof¬
gartens heilt und der Kuhmagd von Feldmoching Kind entdeckt. In der Schick
salswendnng, wonach der Unselige, welcher sich an der Pflicht für sein Kind
emporzuraffen und zu neuem Leben zu stählen gedenkt, als vermeintlicher Ver¬
brecher verhaftet wird, steckt ein Stück ergreifenden Lebens, über welches freilich
wiederum die naturalistische Studie — das nächtliche Gespräch der Schenk¬
mädchen in dem Bodenraume, in welchem sie schlafen — ihre Schatten wirft.
Doch zum Zolafchen Pathos, welches jede andre Art der Darstellung für
himmelblaue Lüge erklärt, ist hier wahrlich überall kein Anlaß,

Jmpvnirender erscheint uns, nicht das Prinzip, aber das wirkliche Talent
Conrads in der Novelle „Die goldne Schmiede," einer Geschichte, welche die
goldne Zeit der Spitzcderschcn Bankherrschaft zum Hintergrund hat. Das glücklich
ergriffene Motiv dieser vermeinten goldnen Schmiede ist übrigens nicht genügend
ausgestaltet. Die wirkliche goldne Schmiede im Eckhaus der Sentlinger- und
Paradiesgasse aber, in welcher Meister Florian Schrvpper mit seiner Frau
Anastasia und seinem Sohne, dem kräftigen Schmiede Max, haust, ist ein Münchner
Bürgerhaus im ältern Stil. Die Mutter hat es durchgesetzt, daß der zweite
Sohn Joseph zum Priester erzogen worden ist, und „eine glückliche, beneidenswert
glückliche Familie, Söhne, die außerordentlich geraten sind, Arbeit, Wohlstand,
Eintracht im Hause — wahrhaftig die goldne Schmiede des Glücks am Paradies¬
gasseneck." Hinter diesem Schein lauern die schlimmen Wahrheiten, daß der
ältere Sohn Max einen schweren Fehltritt auf dem Gewissen und außerdem in
Gemeinschaft mit der thörichten Mutter das große Privatvermögen der Familie
in den Schlund der Dachauer Bank geworfen hat. Noch bevor er auf die
Wanderschaft ging, hat er sich mit Ursula Deixlhofer, der Tochter eines ent¬
fernten und übel beleumundeten Vetters in Giesing, in ein Liebesverhältnis
eingelassen, dem ein Kind entsprungen ist. Während der Schmiedegesell über
die Möglichkeit sinnt, das schlimme Geheimnis zu offenbaren, und Monate und
Jahre verstreichen läßt, in denen sein Knabe heranwächst, während inzwischen
sein geistlicher Bruder Joseph Florian zu einem beliebten Prediger und viel¬
gesuchten Beichtvater, dem echten, modernen Priester der streitbaren Kirche in dem
komplizirten Grvßstadtleben, emporsteigt, bereitet sich die Katastrophe vor, die
plötzlich und mit einem Schlage über das glückliche und vielbeneidete Haus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/190>, abgerufen am 04.07.2024.