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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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In welchem Augenblicke wird uns Faust vorgeführt? Wenn es heißt, er
sei unruhig iiuf seinem Sessel um Pulte, so dürfte diese szenarische Bemerkung
freilich, da der Dichter solche meist wegließ, ein späterer Zusatz sein, wenn sie
anch der Sache durchaus entspricht. Im Puppenspiel studirt er in einem großen
Buche, oder ein solches liegt vor ihm aufgeschlagen, oder er schlägt es eben auf;
das Buch ist ein magisches. Ruch hier haben wir uns das Pult mit magischen
Büchern belegt zu denken, da er allen andern Wissenschaften entsagt hat; das
Buch, das er später nimmt und aufschlägt, liegt dort. Die "Unruhe" ist der
Drang, endlich einmal die Geisterbeschwörung mit Erfolg zu wagen. Der
Ausdruck der Verzweiflung über die Unmöglichkeit, das Wesen von Gott und
Welt zu erkennen, dient nur als Einleitung und Begründung des Entschlusses,
es auf dem Wege der Magie zu versuchen. Freilich ist hierin die Darstellung
dramatisch nicht besonders geschickt, da Faust keine eigentliche Veranlassung hat,
sich selbst seine Verzweiflung an allem Wissen und die dadurch bestimmte Er¬
greifung der Magie zu erzählen; höchstens kann man sagen, er beruhige sich selbst
über den gefaßte" Entschluß, indem er ausführe, wie die Verzweiflung ihn dazu
getrieben. Goethe folgte hier dem Puppenspiele, hob aber unendlich den Ausdruck
brennendsten Schmerzes, obgleich er sich der einfachsten volkstümlichen Be¬
zeichnungen bediente, was ihm als Mangel an dichterischer Kraft vorzurücken
eben nicht von richtiger Beurteilung zeugt. Eigentümlich ist, daß er den Faust
den Kreis des ganzen damalige" Wissens, alle vier Fakultäten, gleich Albertus
dem Große" umfassen läßt. Das Volksbuch und die Puppenspiele nenne" mir
die Theologie, wenn auch ersteres daneben seiner Beschäftigung mit der Nrznei-
tunde und der Astrologie gedenkt; selbst das späte Augsburger Puppenspiel führt
derschiedne Wissenschaften nur zur Ausführung des Satzes an, daß die Neigungen
des Menschen sehr verschiede" seien. Marlowes Faustus, welcher der Philosophie
(dem Aristoteles), der Medizin (dem Galen), dem vorxn8 irn'is (der Jurisprudenz)
und der Bibel (der Theologie) den Abschied giebt, um sich an die Metaphysik
der Zauberei zu hallen, war Goethe zur Zeit unbekannt. Scherer denkt sich,
die vier Fakultäten seien schon in einer Goethe bekannten Fassung des Puppen-
spicles vorgekommen, oder dieser sei zufällig und unbewußt zu Marlvwc zurück¬
gekehrt (?), ja er meint gar, diese Reduktion der in einem späten Puppenspiele
beispielsweise genannten Wissenschaften, Philosophie, Medizin, Mathematik,
Astrologie, Musik und Jurisprudenz, habe sehr nahe gelegen. Warum nicht
einfach anerkennen, daß Goethe selbständig den Faust alles menschliche Wissen,
also alle Fakultäten, "durchaus studiren," den Kreis aller Erkenntnisse er¬
schöpfen läßt? Und daß er die Wissenschaften, die auf Welt und Gott gerichtet
sind, Philosophie und Theologie, mit einem "ach!" und "leider" einleitet, gehört
ihm doch wohl eigentümlich an. Das Ergebnis all seines auf gewisse Er¬
langung sicherer Kenntnis gestellten Forschens, das als eine leidige Thatsache
vor ihm steht ("ich armer Thor!"), ist, daß es eine solche Kenntnis garnicht


In welchem Augenblicke wird uns Faust vorgeführt? Wenn es heißt, er
sei unruhig iiuf seinem Sessel um Pulte, so dürfte diese szenarische Bemerkung
freilich, da der Dichter solche meist wegließ, ein späterer Zusatz sein, wenn sie
anch der Sache durchaus entspricht. Im Puppenspiel studirt er in einem großen
Buche, oder ein solches liegt vor ihm aufgeschlagen, oder er schlägt es eben auf;
das Buch ist ein magisches. Ruch hier haben wir uns das Pult mit magischen
Büchern belegt zu denken, da er allen andern Wissenschaften entsagt hat; das
Buch, das er später nimmt und aufschlägt, liegt dort. Die „Unruhe" ist der
Drang, endlich einmal die Geisterbeschwörung mit Erfolg zu wagen. Der
Ausdruck der Verzweiflung über die Unmöglichkeit, das Wesen von Gott und
Welt zu erkennen, dient nur als Einleitung und Begründung des Entschlusses,
es auf dem Wege der Magie zu versuchen. Freilich ist hierin die Darstellung
dramatisch nicht besonders geschickt, da Faust keine eigentliche Veranlassung hat,
sich selbst seine Verzweiflung an allem Wissen und die dadurch bestimmte Er¬
greifung der Magie zu erzählen; höchstens kann man sagen, er beruhige sich selbst
über den gefaßte» Entschluß, indem er ausführe, wie die Verzweiflung ihn dazu
getrieben. Goethe folgte hier dem Puppenspiele, hob aber unendlich den Ausdruck
brennendsten Schmerzes, obgleich er sich der einfachsten volkstümlichen Be¬
zeichnungen bediente, was ihm als Mangel an dichterischer Kraft vorzurücken
eben nicht von richtiger Beurteilung zeugt. Eigentümlich ist, daß er den Faust
den Kreis des ganzen damalige» Wissens, alle vier Fakultäten, gleich Albertus
dem Große» umfassen läßt. Das Volksbuch und die Puppenspiele nenne» mir
die Theologie, wenn auch ersteres daneben seiner Beschäftigung mit der Nrznei-
tunde und der Astrologie gedenkt; selbst das späte Augsburger Puppenspiel führt
derschiedne Wissenschaften nur zur Ausführung des Satzes an, daß die Neigungen
des Menschen sehr verschiede» seien. Marlowes Faustus, welcher der Philosophie
(dem Aristoteles), der Medizin (dem Galen), dem vorxn8 irn'is (der Jurisprudenz)
und der Bibel (der Theologie) den Abschied giebt, um sich an die Metaphysik
der Zauberei zu hallen, war Goethe zur Zeit unbekannt. Scherer denkt sich,
die vier Fakultäten seien schon in einer Goethe bekannten Fassung des Puppen-
spicles vorgekommen, oder dieser sei zufällig und unbewußt zu Marlvwc zurück¬
gekehrt (?), ja er meint gar, diese Reduktion der in einem späten Puppenspiele
beispielsweise genannten Wissenschaften, Philosophie, Medizin, Mathematik,
Astrologie, Musik und Jurisprudenz, habe sehr nahe gelegen. Warum nicht
einfach anerkennen, daß Goethe selbständig den Faust alles menschliche Wissen,
also alle Fakultäten, „durchaus studiren," den Kreis aller Erkenntnisse er¬
schöpfen läßt? Und daß er die Wissenschaften, die auf Welt und Gott gerichtet
sind, Philosophie und Theologie, mit einem „ach!" und „leider" einleitet, gehört
ihm doch wohl eigentümlich an. Das Ergebnis all seines auf gewisse Er¬
langung sicherer Kenntnis gestellten Forschens, das als eine leidige Thatsache
vor ihm steht („ich armer Thor!"), ist, daß es eine solche Kenntnis garnicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/615>, abgerufen am 05.02.2025.