Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
<Lin deutscher Lügenroman und sein Verfasser,

die zu seiner Zeit modischen Neiseromane enthalte, deren verwegenste Form er
verhöhne. Zarncke meint, daß eine solche Absicht des Verfassers allerdings
nicht zu leugnen sei, daß er dieselbe aber nur nebenher und in zweiter Linie
verfolge. "Der eigentliche Reiz der Gestalt, sagt er, liegt doch anderswo. Sie
geißelt jenes Bestreben des über seine Grenze Hinansstrebenden Bürgerstandes,
die Manieren der vornehmen Welt anzunehmen, die "artigen" und gezierten
Sitten des Adels, seine galanten Liebesabenteuer und sonstigen Aventüren,
wie die französischen Muster sie eingeführt hatten, nachzuahmen, ein Be¬
streben, das gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts fast epidemisch zu werden
begann."

Wenn einmal in dem Romane eine bestimmte ethische Tendenz gefunden
werden soll, so möchten auch wir uns diesen Ausführungen Zaruckes anschließen.
Aber es fragt sich doch sehr, ob wir berechtigt sind, dem Verfasser überhaupt
eine solche unterzuschieben.

Wir sind gegenwärtig nur zu geneigt, ans derartigen humoristische" Werken
mehr herauszulesen, als ihren Verfassern bei der Niederschrift je beigekommen
ist. Die ganze Schwankliteratur des sechzehnten Jahrhunderts ist dadurch in
ein falsches Licht gestellt worden. Bekanntlich enthält dieselbe eine große Anzahl
von Späßen, welche an die Unsittlichkeit des Klerus anknüpfen. Es scheint
uns aber ganz verkehrt, wenn man, wie das vielfach geschehen ist, aus dem
Umstände, daß gerade diese Sorte von Geschichten so häufig wiederkehrt, auf
eine reformatorische Tendenz bei Männern wie Bebel oder Pauli schließen will.
Man Übersicht dabei viel zu sehr das Behagen, das die Erzähler solcher Streiche
an der Sache selbst haben, und vergißt, daß die Gelegenheit, derartige Witze
anzubringen, bei keinem Stande günstiger war als bei dem geistlichen, da der
Widerspruch zwischen den Forderungen des Cölibates und den Verlockungen
des Lebens dieselben nur drastischer machen mußte.

Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Schelmuffsky. Es ist, so viel
wir sehen, garnicht zu verkennen, daß der Schreiber desselben mit dem größten
Wohlgefallen das Lügcnsystem seines Helden ausspinnt, daß er aufschneidet, weil
ihm das Aufschneiden selbst Spaß macht, gerade so wie der Jäger, der den
Leuten von seinen Heldenthaten, wie man zu sagen pflegt, "die Hucke voll lügt,"
selbst das größte Vergnügen an seinen Flunkereien hat. Man kann daher
immerhin die von Zarncke hervorgehobene Tendenz des Schelmuffsky als eine
nebenbei auftretende gelten lassen, die Hauptsache aber ist und bleibt bei dem
Buche doch die Freude des Verfassers an der Renommisterei selbst und an dem
burschikosen Wesen, welches er seinen Helden zur Schau tragen läßt.

Diese Wahrnehmung wird nur bestätigt, wenn wir die Persönlichkeit des
Autors unsrer Erzählung ins Auge fasse" und uns vergegenwärtigen, daß er
ein Student war und das tolle Leben und Treiben der Studenten seiner Zeit
bei seineu poetischen Arbeiten vorzugsweise vor Augen hatte.


<Lin deutscher Lügenroman und sein Verfasser,

die zu seiner Zeit modischen Neiseromane enthalte, deren verwegenste Form er
verhöhne. Zarncke meint, daß eine solche Absicht des Verfassers allerdings
nicht zu leugnen sei, daß er dieselbe aber nur nebenher und in zweiter Linie
verfolge. „Der eigentliche Reiz der Gestalt, sagt er, liegt doch anderswo. Sie
geißelt jenes Bestreben des über seine Grenze Hinansstrebenden Bürgerstandes,
die Manieren der vornehmen Welt anzunehmen, die »artigen« und gezierten
Sitten des Adels, seine galanten Liebesabenteuer und sonstigen Aventüren,
wie die französischen Muster sie eingeführt hatten, nachzuahmen, ein Be¬
streben, das gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts fast epidemisch zu werden
begann."

Wenn einmal in dem Romane eine bestimmte ethische Tendenz gefunden
werden soll, so möchten auch wir uns diesen Ausführungen Zaruckes anschließen.
Aber es fragt sich doch sehr, ob wir berechtigt sind, dem Verfasser überhaupt
eine solche unterzuschieben.

Wir sind gegenwärtig nur zu geneigt, ans derartigen humoristische» Werken
mehr herauszulesen, als ihren Verfassern bei der Niederschrift je beigekommen
ist. Die ganze Schwankliteratur des sechzehnten Jahrhunderts ist dadurch in
ein falsches Licht gestellt worden. Bekanntlich enthält dieselbe eine große Anzahl
von Späßen, welche an die Unsittlichkeit des Klerus anknüpfen. Es scheint
uns aber ganz verkehrt, wenn man, wie das vielfach geschehen ist, aus dem
Umstände, daß gerade diese Sorte von Geschichten so häufig wiederkehrt, auf
eine reformatorische Tendenz bei Männern wie Bebel oder Pauli schließen will.
Man Übersicht dabei viel zu sehr das Behagen, das die Erzähler solcher Streiche
an der Sache selbst haben, und vergißt, daß die Gelegenheit, derartige Witze
anzubringen, bei keinem Stande günstiger war als bei dem geistlichen, da der
Widerspruch zwischen den Forderungen des Cölibates und den Verlockungen
des Lebens dieselben nur drastischer machen mußte.

Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Schelmuffsky. Es ist, so viel
wir sehen, garnicht zu verkennen, daß der Schreiber desselben mit dem größten
Wohlgefallen das Lügcnsystem seines Helden ausspinnt, daß er aufschneidet, weil
ihm das Aufschneiden selbst Spaß macht, gerade so wie der Jäger, der den
Leuten von seinen Heldenthaten, wie man zu sagen pflegt, „die Hucke voll lügt,"
selbst das größte Vergnügen an seinen Flunkereien hat. Man kann daher
immerhin die von Zarncke hervorgehobene Tendenz des Schelmuffsky als eine
nebenbei auftretende gelten lassen, die Hauptsache aber ist und bleibt bei dem
Buche doch die Freude des Verfassers an der Renommisterei selbst und an dem
burschikosen Wesen, welches er seinen Helden zur Schau tragen läßt.

Diese Wahrnehmung wird nur bestätigt, wenn wir die Persönlichkeit des
Autors unsrer Erzählung ins Auge fasse» und uns vergegenwärtigen, daß er
ein Student war und das tolle Leben und Treiben der Studenten seiner Zeit
bei seineu poetischen Arbeiten vorzugsweise vor Augen hatte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0546" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197970"/>
          <fw type="header" place="top"> &lt;Lin deutscher Lügenroman und sein Verfasser,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1609" prev="#ID_1608"> die zu seiner Zeit modischen Neiseromane enthalte, deren verwegenste Form er<lb/>
verhöhne. Zarncke meint, daß eine solche Absicht des Verfassers allerdings<lb/>
nicht zu leugnen sei, daß er dieselbe aber nur nebenher und in zweiter Linie<lb/>
verfolge. &#x201E;Der eigentliche Reiz der Gestalt, sagt er, liegt doch anderswo. Sie<lb/>
geißelt jenes Bestreben des über seine Grenze Hinansstrebenden Bürgerstandes,<lb/>
die Manieren der vornehmen Welt anzunehmen, die »artigen« und gezierten<lb/>
Sitten des Adels, seine galanten Liebesabenteuer und sonstigen Aventüren,<lb/>
wie die französischen Muster sie eingeführt hatten, nachzuahmen, ein Be¬<lb/>
streben, das gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts fast epidemisch zu werden<lb/>
begann."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1610"> Wenn einmal in dem Romane eine bestimmte ethische Tendenz gefunden<lb/>
werden soll, so möchten auch wir uns diesen Ausführungen Zaruckes anschließen.<lb/>
Aber es fragt sich doch sehr, ob wir berechtigt sind, dem Verfasser überhaupt<lb/>
eine solche unterzuschieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1611"> Wir sind gegenwärtig nur zu geneigt, ans derartigen humoristische» Werken<lb/>
mehr herauszulesen, als ihren Verfassern bei der Niederschrift je beigekommen<lb/>
ist. Die ganze Schwankliteratur des sechzehnten Jahrhunderts ist dadurch in<lb/>
ein falsches Licht gestellt worden. Bekanntlich enthält dieselbe eine große Anzahl<lb/>
von Späßen, welche an die Unsittlichkeit des Klerus anknüpfen. Es scheint<lb/>
uns aber ganz verkehrt, wenn man, wie das vielfach geschehen ist, aus dem<lb/>
Umstände, daß gerade diese Sorte von Geschichten so häufig wiederkehrt, auf<lb/>
eine reformatorische Tendenz bei Männern wie Bebel oder Pauli schließen will.<lb/>
Man Übersicht dabei viel zu sehr das Behagen, das die Erzähler solcher Streiche<lb/>
an der Sache selbst haben, und vergißt, daß die Gelegenheit, derartige Witze<lb/>
anzubringen, bei keinem Stande günstiger war als bei dem geistlichen, da der<lb/>
Widerspruch zwischen den Forderungen des Cölibates und den Verlockungen<lb/>
des Lebens dieselben nur drastischer machen mußte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1612"> Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Schelmuffsky. Es ist, so viel<lb/>
wir sehen, garnicht zu verkennen, daß der Schreiber desselben mit dem größten<lb/>
Wohlgefallen das Lügcnsystem seines Helden ausspinnt, daß er aufschneidet, weil<lb/>
ihm das Aufschneiden selbst Spaß macht, gerade so wie der Jäger, der den<lb/>
Leuten von seinen Heldenthaten, wie man zu sagen pflegt, &#x201E;die Hucke voll lügt,"<lb/>
selbst das größte Vergnügen an seinen Flunkereien hat. Man kann daher<lb/>
immerhin die von Zarncke hervorgehobene Tendenz des Schelmuffsky als eine<lb/>
nebenbei auftretende gelten lassen, die Hauptsache aber ist und bleibt bei dem<lb/>
Buche doch die Freude des Verfassers an der Renommisterei selbst und an dem<lb/>
burschikosen Wesen, welches er seinen Helden zur Schau tragen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1613"> Diese Wahrnehmung wird nur bestätigt, wenn wir die Persönlichkeit des<lb/>
Autors unsrer Erzählung ins Auge fasse» und uns vergegenwärtigen, daß er<lb/>
ein Student war und das tolle Leben und Treiben der Studenten seiner Zeit<lb/>
bei seineu poetischen Arbeiten vorzugsweise vor Augen hatte.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0546] <Lin deutscher Lügenroman und sein Verfasser, die zu seiner Zeit modischen Neiseromane enthalte, deren verwegenste Form er verhöhne. Zarncke meint, daß eine solche Absicht des Verfassers allerdings nicht zu leugnen sei, daß er dieselbe aber nur nebenher und in zweiter Linie verfolge. „Der eigentliche Reiz der Gestalt, sagt er, liegt doch anderswo. Sie geißelt jenes Bestreben des über seine Grenze Hinansstrebenden Bürgerstandes, die Manieren der vornehmen Welt anzunehmen, die »artigen« und gezierten Sitten des Adels, seine galanten Liebesabenteuer und sonstigen Aventüren, wie die französischen Muster sie eingeführt hatten, nachzuahmen, ein Be¬ streben, das gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts fast epidemisch zu werden begann." Wenn einmal in dem Romane eine bestimmte ethische Tendenz gefunden werden soll, so möchten auch wir uns diesen Ausführungen Zaruckes anschließen. Aber es fragt sich doch sehr, ob wir berechtigt sind, dem Verfasser überhaupt eine solche unterzuschieben. Wir sind gegenwärtig nur zu geneigt, ans derartigen humoristische» Werken mehr herauszulesen, als ihren Verfassern bei der Niederschrift je beigekommen ist. Die ganze Schwankliteratur des sechzehnten Jahrhunderts ist dadurch in ein falsches Licht gestellt worden. Bekanntlich enthält dieselbe eine große Anzahl von Späßen, welche an die Unsittlichkeit des Klerus anknüpfen. Es scheint uns aber ganz verkehrt, wenn man, wie das vielfach geschehen ist, aus dem Umstände, daß gerade diese Sorte von Geschichten so häufig wiederkehrt, auf eine reformatorische Tendenz bei Männern wie Bebel oder Pauli schließen will. Man Übersicht dabei viel zu sehr das Behagen, das die Erzähler solcher Streiche an der Sache selbst haben, und vergißt, daß die Gelegenheit, derartige Witze anzubringen, bei keinem Stande günstiger war als bei dem geistlichen, da der Widerspruch zwischen den Forderungen des Cölibates und den Verlockungen des Lebens dieselben nur drastischer machen mußte. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse beim Schelmuffsky. Es ist, so viel wir sehen, garnicht zu verkennen, daß der Schreiber desselben mit dem größten Wohlgefallen das Lügcnsystem seines Helden ausspinnt, daß er aufschneidet, weil ihm das Aufschneiden selbst Spaß macht, gerade so wie der Jäger, der den Leuten von seinen Heldenthaten, wie man zu sagen pflegt, „die Hucke voll lügt," selbst das größte Vergnügen an seinen Flunkereien hat. Man kann daher immerhin die von Zarncke hervorgehobene Tendenz des Schelmuffsky als eine nebenbei auftretende gelten lassen, die Hauptsache aber ist und bleibt bei dem Buche doch die Freude des Verfassers an der Renommisterei selbst und an dem burschikosen Wesen, welches er seinen Helden zur Schau tragen läßt. Diese Wahrnehmung wird nur bestätigt, wenn wir die Persönlichkeit des Autors unsrer Erzählung ins Auge fasse» und uns vergegenwärtigen, daß er ein Student war und das tolle Leben und Treiben der Studenten seiner Zeit bei seineu poetischen Arbeiten vorzugsweise vor Augen hatte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/546
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/546>, abgerufen am 05.02.2025.