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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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In dieser höchsten Not kommt der Bruder Michael in sein Städtchen und besucht
auch ihn. Welch ein Unterschied zwischen den beiden Brüdern! Michael ist
unterdes ein Herr geworden, der auf seinen Reichtum stolz ist. Im Hotel sitzt
er an der Hvnorativrentafel, kaum darf er sich zusammen mit dem armen
Schlvssermeistcr zeigen. Gabriel fühlt schmerzlich seine unbrüderliche Kälte, und
der Dichter erklärt dabei sein Schicksal: "Hätte er größere Einsicht und Bildung
besessen, so würde er gesagt haben, er sehe es nun an einem naheliegenden
Beispiele zu allererst, wie die Menschlichkeit in den meisten Menschen viel früher
als diese selbst absterbe, und wie er für seine Person zu dem geringen Häuflein
derjenigen gehöre, welchen sie während des ganzen Lebens "nvcrloren bleibt, zu
dem Häuflein derjenigen, welche von der Welt, vorausgesetzt, daß dieselbe guter
Laune ist, große Kinder genannt werden und die echten Sonntagskinder sind,
mit ihrem Sonntage jedoch kein Glück machen, da der Werktag allein schafft,
was förderlich ist."

Aber die wichtigste Erfahrung muß Gabriel erst noch machen. Da er die
ganze Zeit über nicht mit seiner Familie verkehrt hat, so erfährt er erst jetzt,
nach zehn Jahren etwa, daß Crescenz sich von Michael hat scheiden lassen, in
einem fremden Städtchen, wo niemand sie verachten konnte, sich ganz allein
niedergelassen hat, und daß Michael inzwischen wieder geheiratet hat, Kinder be-
kommen hat und glücklich geworden ist. Gabriel ist über diese Mitteilung, die
seine ganze Aufopferung lächerlich macht, so konfus, daß er sich bis zur "Ma^
jestütsbeleidiguug" hinreißen läßt, wie der am Wirtstische anwesende Staats¬
anwalt seine Reden erklärt, und in der That wird ihm der Prozeß gemacht,
und Gabriel muß einige Monate im Gefängnis sitzen. Hier lernt er durchs
Gitter ein leichtfertiges hübsches Mädchen, Nosinchcn genannt, kennen, in das
er sich leidenschaftlich verliebt. Frei geworden, weist er jede Geldunterstützung,
die ihm der Bruder hinterlassen hat, zurück, und wandert zu Crescentia. Und
sonderbar: diese empfängt ihn mit Jubel! Sie hat darauf gerechnet, daß er
einmal kommeu werde, aber selbst sich melden mochte sie nicht, ja sie hatte der
Mutter einen Schwur abgenommen, ihre Trennung von Michael dem andern
Bruder nicht eher mitzuteilen, als bis Gabriel selbst nach ihr fragen würde.
Und Gabriel fragte uicht! Nun sollte man meinen, es stünde der Verbindung
beider nichts im Wege und das "Sonntagskind" könnte glücklich sein. Aber den
Dichter will ja die These durchführen, daß die rechte Menschlichkeit, der wahr¬
haft sittliche Mann ans dieser Welt nicht leben könne: darum muß die unmög¬
liche Liebe zu Nvsinchen auch jetzt einer Erwiederung der Liebe Crescentias bei
Gabriel im Wege stehen und nach kurzem Beisammensein sie trennen. Und da
nun der Dichter nichts mehr mit seinem that- und kraftlosen .Helden einzufangen
weiß, so muß ihn die galoppirende Schwindsucht dahinraffen.

Ich habe nicht ohne Absicht die Handlung ziemlich ausführlich wieder¬
gegeben, denn diese Wiedergabe enthält schon die Kritik derselben. Es ist eine


In dieser höchsten Not kommt der Bruder Michael in sein Städtchen und besucht
auch ihn. Welch ein Unterschied zwischen den beiden Brüdern! Michael ist
unterdes ein Herr geworden, der auf seinen Reichtum stolz ist. Im Hotel sitzt
er an der Hvnorativrentafel, kaum darf er sich zusammen mit dem armen
Schlvssermeistcr zeigen. Gabriel fühlt schmerzlich seine unbrüderliche Kälte, und
der Dichter erklärt dabei sein Schicksal: „Hätte er größere Einsicht und Bildung
besessen, so würde er gesagt haben, er sehe es nun an einem naheliegenden
Beispiele zu allererst, wie die Menschlichkeit in den meisten Menschen viel früher
als diese selbst absterbe, und wie er für seine Person zu dem geringen Häuflein
derjenigen gehöre, welchen sie während des ganzen Lebens »nvcrloren bleibt, zu
dem Häuflein derjenigen, welche von der Welt, vorausgesetzt, daß dieselbe guter
Laune ist, große Kinder genannt werden und die echten Sonntagskinder sind,
mit ihrem Sonntage jedoch kein Glück machen, da der Werktag allein schafft,
was förderlich ist."

Aber die wichtigste Erfahrung muß Gabriel erst noch machen. Da er die
ganze Zeit über nicht mit seiner Familie verkehrt hat, so erfährt er erst jetzt,
nach zehn Jahren etwa, daß Crescenz sich von Michael hat scheiden lassen, in
einem fremden Städtchen, wo niemand sie verachten konnte, sich ganz allein
niedergelassen hat, und daß Michael inzwischen wieder geheiratet hat, Kinder be-
kommen hat und glücklich geworden ist. Gabriel ist über diese Mitteilung, die
seine ganze Aufopferung lächerlich macht, so konfus, daß er sich bis zur „Ma^
jestütsbeleidiguug" hinreißen läßt, wie der am Wirtstische anwesende Staats¬
anwalt seine Reden erklärt, und in der That wird ihm der Prozeß gemacht,
und Gabriel muß einige Monate im Gefängnis sitzen. Hier lernt er durchs
Gitter ein leichtfertiges hübsches Mädchen, Nosinchcn genannt, kennen, in das
er sich leidenschaftlich verliebt. Frei geworden, weist er jede Geldunterstützung,
die ihm der Bruder hinterlassen hat, zurück, und wandert zu Crescentia. Und
sonderbar: diese empfängt ihn mit Jubel! Sie hat darauf gerechnet, daß er
einmal kommeu werde, aber selbst sich melden mochte sie nicht, ja sie hatte der
Mutter einen Schwur abgenommen, ihre Trennung von Michael dem andern
Bruder nicht eher mitzuteilen, als bis Gabriel selbst nach ihr fragen würde.
Und Gabriel fragte uicht! Nun sollte man meinen, es stünde der Verbindung
beider nichts im Wege und das „Sonntagskind" könnte glücklich sein. Aber den
Dichter will ja die These durchführen, daß die rechte Menschlichkeit, der wahr¬
haft sittliche Mann ans dieser Welt nicht leben könne: darum muß die unmög¬
liche Liebe zu Nvsinchen auch jetzt einer Erwiederung der Liebe Crescentias bei
Gabriel im Wege stehen und nach kurzem Beisammensein sie trennen. Und da
nun der Dichter nichts mehr mit seinem that- und kraftlosen .Helden einzufangen
weiß, so muß ihn die galoppirende Schwindsucht dahinraffen.

Ich habe nicht ohne Absicht die Handlung ziemlich ausführlich wieder¬
gegeben, denn diese Wiedergabe enthält schon die Kritik derselben. Es ist eine


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[0367] In dieser höchsten Not kommt der Bruder Michael in sein Städtchen und besucht auch ihn. Welch ein Unterschied zwischen den beiden Brüdern! Michael ist unterdes ein Herr geworden, der auf seinen Reichtum stolz ist. Im Hotel sitzt er an der Hvnorativrentafel, kaum darf er sich zusammen mit dem armen Schlvssermeistcr zeigen. Gabriel fühlt schmerzlich seine unbrüderliche Kälte, und der Dichter erklärt dabei sein Schicksal: „Hätte er größere Einsicht und Bildung besessen, so würde er gesagt haben, er sehe es nun an einem naheliegenden Beispiele zu allererst, wie die Menschlichkeit in den meisten Menschen viel früher als diese selbst absterbe, und wie er für seine Person zu dem geringen Häuflein derjenigen gehöre, welchen sie während des ganzen Lebens »nvcrloren bleibt, zu dem Häuflein derjenigen, welche von der Welt, vorausgesetzt, daß dieselbe guter Laune ist, große Kinder genannt werden und die echten Sonntagskinder sind, mit ihrem Sonntage jedoch kein Glück machen, da der Werktag allein schafft, was förderlich ist." Aber die wichtigste Erfahrung muß Gabriel erst noch machen. Da er die ganze Zeit über nicht mit seiner Familie verkehrt hat, so erfährt er erst jetzt, nach zehn Jahren etwa, daß Crescenz sich von Michael hat scheiden lassen, in einem fremden Städtchen, wo niemand sie verachten konnte, sich ganz allein niedergelassen hat, und daß Michael inzwischen wieder geheiratet hat, Kinder be- kommen hat und glücklich geworden ist. Gabriel ist über diese Mitteilung, die seine ganze Aufopferung lächerlich macht, so konfus, daß er sich bis zur „Ma^ jestütsbeleidiguug" hinreißen läßt, wie der am Wirtstische anwesende Staats¬ anwalt seine Reden erklärt, und in der That wird ihm der Prozeß gemacht, und Gabriel muß einige Monate im Gefängnis sitzen. Hier lernt er durchs Gitter ein leichtfertiges hübsches Mädchen, Nosinchcn genannt, kennen, in das er sich leidenschaftlich verliebt. Frei geworden, weist er jede Geldunterstützung, die ihm der Bruder hinterlassen hat, zurück, und wandert zu Crescentia. Und sonderbar: diese empfängt ihn mit Jubel! Sie hat darauf gerechnet, daß er einmal kommeu werde, aber selbst sich melden mochte sie nicht, ja sie hatte der Mutter einen Schwur abgenommen, ihre Trennung von Michael dem andern Bruder nicht eher mitzuteilen, als bis Gabriel selbst nach ihr fragen würde. Und Gabriel fragte uicht! Nun sollte man meinen, es stünde der Verbindung beider nichts im Wege und das „Sonntagskind" könnte glücklich sein. Aber den Dichter will ja die These durchführen, daß die rechte Menschlichkeit, der wahr¬ haft sittliche Mann ans dieser Welt nicht leben könne: darum muß die unmög¬ liche Liebe zu Nvsinchen auch jetzt einer Erwiederung der Liebe Crescentias bei Gabriel im Wege stehen und nach kurzem Beisammensein sie trennen. Und da nun der Dichter nichts mehr mit seinem that- und kraftlosen .Helden einzufangen weiß, so muß ihn die galoppirende Schwindsucht dahinraffen. Ich habe nicht ohne Absicht die Handlung ziemlich ausführlich wieder¬ gegeben, denn diese Wiedergabe enthält schon die Kritik derselben. Es ist eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/367>, abgerufen am 05.02.2025.