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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Ein realistischer Roman.

Kette von Unwahrscheinlichkeiten, und unfaßbar ist es, wie man hier von
Realismus hat reden können. Zunächst: welch ein Widerspruch im Helden selbst!
Schlosser und beschaulich wie ein Dichter! als ob nicht die schwere körperliche
Arbeit seines Berufes allein jedes beschauliche Temperament ausschlösse! Wenn
dieser Gabriel überhaupt tragisch wäre, so müßte er es durch den Zwiespalt
zwischen seinem äußern und seinem innern Menschen werden, was jedoch dem
Dichter nicht entfernt eingefallen ist. Sodann hat der Dichter die Kontem¬
plation Gabriels so ausschließlich zu seinem Charakter gemacht, daß er ihn jeder
Energie, zu begehren, jeder Kraft, zu handeln beraubt hat, nicht einmal in der
höchsten Notwehr der beleidigten Mcmneswttrde läßt er ihn etwas thun, und
in der größten Not des gemeinen Lebens giebt er ihm nicht einmal das Streben,
durch Arbeit seinem Hunger zu wehren, daß man sagen muß: so ein Mensch
ist ganz undenkbar. Wenn er möglich ist, so ist er keineswegs eines jener
"Sonntagskinder," das die Menschlichkeit in sich am längsten bewahrt, sondern
ein pathologisches Objekt. Vor allem ist er kein sittlich wertvolles Individuum:
denn die wahre Sittlichkeit besteht nicht in der absoluten Passivität des Nci-
sonnirens, sie fordert auch die Kraft zu handeln, sie duldet nicht bloß, sondern
verlangt sogar einen kräftigen Egoismus, wie selbst die traditionelle Morallehre
von Pflichten des Menschen gegen sich selbst spricht. Der Pessimismus, der
aus diesem Buche des Verfassers mit dem "ungefälligen Namen" spricht, ist
keine ernst zu nehmende Weltanschauung, sondern krankhafte Hypochondrie. Und
wie unwahrscheinlich ist Creseenz mit ihrer Liebe zu Gabriel! Man denke an
die Novelle "Zwischen Himmel und Erde" von Otto Ludwig: auch da zwei
Brüder, die dasselbe Weib lieben. Aber mit welchen Vorzügen hatte Ludwig
jenen Bruder ausgestattet, der dem verheirateten gefährlich wird! Hier ist es
schlechthin unbegreiflich, warum CreSeenz den einäugigen, einsilbigen, ungelenken
Gabriel dem gewiß uicht gefühlsrohen, aber lebensfreudigen Michael vorzieht.
Es ist aber immer schlimm, wenn der Dichter kein andres Motiv als eben die
Blindheit der Liebe anzuführen weiß. Auch die seltsame Buße, die sich
Crescenz -- vielleicht wegen der versuchten Verführung Gabriels? -- auferlegt,
will nicht recht zu ihrer ursprünglichen Leidenschaft stimmen, mit der sie den
Schwager begehrt. Daß man das Buch trotz seines überidealistischen Grund¬
gedankens als ein "naturalistisches" Produkt hat anpreisen können, dürfte vor¬
züglich auf diese, wenn anch noch so hübsch verschleierte, doch rein pathologische
Behandlung der Liebesleidenschaft zurückzuführen sein. Ob das für den Autor
ein Kompliment war, lassen wir dahingestellt.

Wir wollen aber uicht von ihm scheiden, ohne die Hoffnung auszusprechen,
zu der uns seine glückliche Darstellungsgabe anregt, daß er aus gesundem
Grundgedanken erfreulichere Leistungen als "Im Bruch" bieten werde, um die
Prophezeiung seines akademischen Kritikers doch noch wahr zu machen.


Moritz Necker.


Ein realistischer Roman.

Kette von Unwahrscheinlichkeiten, und unfaßbar ist es, wie man hier von
Realismus hat reden können. Zunächst: welch ein Widerspruch im Helden selbst!
Schlosser und beschaulich wie ein Dichter! als ob nicht die schwere körperliche
Arbeit seines Berufes allein jedes beschauliche Temperament ausschlösse! Wenn
dieser Gabriel überhaupt tragisch wäre, so müßte er es durch den Zwiespalt
zwischen seinem äußern und seinem innern Menschen werden, was jedoch dem
Dichter nicht entfernt eingefallen ist. Sodann hat der Dichter die Kontem¬
plation Gabriels so ausschließlich zu seinem Charakter gemacht, daß er ihn jeder
Energie, zu begehren, jeder Kraft, zu handeln beraubt hat, nicht einmal in der
höchsten Notwehr der beleidigten Mcmneswttrde läßt er ihn etwas thun, und
in der größten Not des gemeinen Lebens giebt er ihm nicht einmal das Streben,
durch Arbeit seinem Hunger zu wehren, daß man sagen muß: so ein Mensch
ist ganz undenkbar. Wenn er möglich ist, so ist er keineswegs eines jener
„Sonntagskinder," das die Menschlichkeit in sich am längsten bewahrt, sondern
ein pathologisches Objekt. Vor allem ist er kein sittlich wertvolles Individuum:
denn die wahre Sittlichkeit besteht nicht in der absoluten Passivität des Nci-
sonnirens, sie fordert auch die Kraft zu handeln, sie duldet nicht bloß, sondern
verlangt sogar einen kräftigen Egoismus, wie selbst die traditionelle Morallehre
von Pflichten des Menschen gegen sich selbst spricht. Der Pessimismus, der
aus diesem Buche des Verfassers mit dem „ungefälligen Namen" spricht, ist
keine ernst zu nehmende Weltanschauung, sondern krankhafte Hypochondrie. Und
wie unwahrscheinlich ist Creseenz mit ihrer Liebe zu Gabriel! Man denke an
die Novelle „Zwischen Himmel und Erde" von Otto Ludwig: auch da zwei
Brüder, die dasselbe Weib lieben. Aber mit welchen Vorzügen hatte Ludwig
jenen Bruder ausgestattet, der dem verheirateten gefährlich wird! Hier ist es
schlechthin unbegreiflich, warum CreSeenz den einäugigen, einsilbigen, ungelenken
Gabriel dem gewiß uicht gefühlsrohen, aber lebensfreudigen Michael vorzieht.
Es ist aber immer schlimm, wenn der Dichter kein andres Motiv als eben die
Blindheit der Liebe anzuführen weiß. Auch die seltsame Buße, die sich
Crescenz — vielleicht wegen der versuchten Verführung Gabriels? — auferlegt,
will nicht recht zu ihrer ursprünglichen Leidenschaft stimmen, mit der sie den
Schwager begehrt. Daß man das Buch trotz seines überidealistischen Grund¬
gedankens als ein „naturalistisches" Produkt hat anpreisen können, dürfte vor¬
züglich auf diese, wenn anch noch so hübsch verschleierte, doch rein pathologische
Behandlung der Liebesleidenschaft zurückzuführen sein. Ob das für den Autor
ein Kompliment war, lassen wir dahingestellt.

Wir wollen aber uicht von ihm scheiden, ohne die Hoffnung auszusprechen,
zu der uns seine glückliche Darstellungsgabe anregt, daß er aus gesundem
Grundgedanken erfreulichere Leistungen als „Im Bruch" bieten werde, um die
Prophezeiung seines akademischen Kritikers doch noch wahr zu machen.


Moritz Necker.


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[0368] Ein realistischer Roman. Kette von Unwahrscheinlichkeiten, und unfaßbar ist es, wie man hier von Realismus hat reden können. Zunächst: welch ein Widerspruch im Helden selbst! Schlosser und beschaulich wie ein Dichter! als ob nicht die schwere körperliche Arbeit seines Berufes allein jedes beschauliche Temperament ausschlösse! Wenn dieser Gabriel überhaupt tragisch wäre, so müßte er es durch den Zwiespalt zwischen seinem äußern und seinem innern Menschen werden, was jedoch dem Dichter nicht entfernt eingefallen ist. Sodann hat der Dichter die Kontem¬ plation Gabriels so ausschließlich zu seinem Charakter gemacht, daß er ihn jeder Energie, zu begehren, jeder Kraft, zu handeln beraubt hat, nicht einmal in der höchsten Notwehr der beleidigten Mcmneswttrde läßt er ihn etwas thun, und in der größten Not des gemeinen Lebens giebt er ihm nicht einmal das Streben, durch Arbeit seinem Hunger zu wehren, daß man sagen muß: so ein Mensch ist ganz undenkbar. Wenn er möglich ist, so ist er keineswegs eines jener „Sonntagskinder," das die Menschlichkeit in sich am längsten bewahrt, sondern ein pathologisches Objekt. Vor allem ist er kein sittlich wertvolles Individuum: denn die wahre Sittlichkeit besteht nicht in der absoluten Passivität des Nci- sonnirens, sie fordert auch die Kraft zu handeln, sie duldet nicht bloß, sondern verlangt sogar einen kräftigen Egoismus, wie selbst die traditionelle Morallehre von Pflichten des Menschen gegen sich selbst spricht. Der Pessimismus, der aus diesem Buche des Verfassers mit dem „ungefälligen Namen" spricht, ist keine ernst zu nehmende Weltanschauung, sondern krankhafte Hypochondrie. Und wie unwahrscheinlich ist Creseenz mit ihrer Liebe zu Gabriel! Man denke an die Novelle „Zwischen Himmel und Erde" von Otto Ludwig: auch da zwei Brüder, die dasselbe Weib lieben. Aber mit welchen Vorzügen hatte Ludwig jenen Bruder ausgestattet, der dem verheirateten gefährlich wird! Hier ist es schlechthin unbegreiflich, warum CreSeenz den einäugigen, einsilbigen, ungelenken Gabriel dem gewiß uicht gefühlsrohen, aber lebensfreudigen Michael vorzieht. Es ist aber immer schlimm, wenn der Dichter kein andres Motiv als eben die Blindheit der Liebe anzuführen weiß. Auch die seltsame Buße, die sich Crescenz — vielleicht wegen der versuchten Verführung Gabriels? — auferlegt, will nicht recht zu ihrer ursprünglichen Leidenschaft stimmen, mit der sie den Schwager begehrt. Daß man das Buch trotz seines überidealistischen Grund¬ gedankens als ein „naturalistisches" Produkt hat anpreisen können, dürfte vor¬ züglich auf diese, wenn anch noch so hübsch verschleierte, doch rein pathologische Behandlung der Liebesleidenschaft zurückzuführen sein. Ob das für den Autor ein Kompliment war, lassen wir dahingestellt. Wir wollen aber uicht von ihm scheiden, ohne die Hoffnung auszusprechen, zu der uns seine glückliche Darstellungsgabe anregt, daß er aus gesundem Grundgedanken erfreulichere Leistungen als „Im Bruch" bieten werde, um die Prophezeiung seines akademischen Kritikers doch noch wahr zu machen. Moritz Necker.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/368>, abgerufen am 05.02.2025.