Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Line mündliche Verhandlung, wie sie nicht sein soll, nehmen doch keinen Anstand, jenes vorgrcifliche Urteil des Vorsitzenden auch Line mündliche Verhandlung, wie sie nicht sein soll, nehmen doch keinen Anstand, jenes vorgrcifliche Urteil des Vorsitzenden auch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0328" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197752"/> <fw type="header" place="top"> Line mündliche Verhandlung, wie sie nicht sein soll,</fw><lb/> <p xml:id="ID_964" prev="#ID_963" next="#ID_965"> nehmen doch keinen Anstand, jenes vorgrcifliche Urteil des Vorsitzenden auch<lb/> materiell hier zu besprechen, teils weil dasselbe ganz unberufen ausgesprochen,<lb/> teils weil es offenbar haltlos ist. Wissen wir anch nicht genau, was der Anwalt<lb/> des Klägers vorgetragen und was deshalb der Vorsitzende unter den „Poli¬<lb/> tischen Geschichten" verstanden hat, die er als nicht zur Sache gehörig zurück¬<lb/> weist, so ist doch soviel klar, daß der vorliegende Prozeß ohne Verständnis der<lb/> politischen Bedeutung des in Art, 32 der Reichsverfassung enthaltenen Verbots<lb/> für Rcichstagsmitgliedcr, Besoldung oder Entschädigung zu beziehen, nicht ent¬<lb/> schieden werden kann. Und der Ausspruch des Vorsitzende«: „Wir haben hier<lb/> nicht über politische, sondern über privatrechtliche Verhältnisse zu urteilen," ist,<lb/> so wie er dasteht, jedenfalls höchst auffüllig. Sehen wir nun aber weiter, mit<lb/> welchem überwiegenden Verständnis unser Redner die Sache vom rein privat-<lb/> rechtlichen Standpunkte beurteilt! Er sieht in der Entgegennahme von Diäten<lb/> kein „Rechtsgeschäft." Denn wo sind die „Kontrahenten"? Er kann in deren<lb/> Hingabe anch leine Zahlung erkennen. Denn Zahlung ist doch nur „Lösung<lb/> einer vorher gegangenen Verbindlichkeit." Wir gestehen, daß diese Jurisprudenz<lb/> uns einen wahrhaft schmerzlichen Eindruck gemacht hat. Der Redner scheint<lb/> kein andres Rechtsgeschäft zu kennen als ein solches, wo zwei Kontrahenten<lb/> einander gegenübertreten und eine Art Stipulation abschließen: LxonÄösno<lb/> milli älM? ZxoirÄöo! Und weil das römische Wort »olatio in den Lehr¬<lb/> büchern mit „Zahlung" übersetzt wird, so ist ihm jeder Begriff von Zahlung,<lb/> die nicht eine „Lösung" ist, unbekannt. Denken wir uns nun folgenden Fall, An<lb/> einer Straßenecke steht ein Dienstmann. Ein Vorübergehender drückt ihm ein<lb/> Zwanzigmarkstück in die Hand und sagt ihm: „Dafür werfen Sie hente Abend<lb/> dem L, die Fenster ein," Der Dienstmann nimmt das Geld lächelnd und<lb/> spricht kein Wort. Aber abends geht er hin und läßt die Fenster des T.<lb/> klirren. Hat er nun ein „Rechtsgeschäft" abgeschlossen? Hat er eine „Zahlung"<lb/> empfangen? Unsre Autorität wird sagen: Nein! Ich sehe von dem allen<lb/> nichts! Und doch wird ein verständiger Mensch, wenn er nicht gerade das<lb/> Unglück hat, Jurist zu sein, nicht daran zweifeln. Nach dieser Entwicklung von<lb/> Jurisprudenz ist es auch uicht zu verwundern, daß unser Redner weiter die<lb/> Frage stellt: Wo steckt denn der „nicht ehrbare" Zweck? Der Zweck war doch<lb/> nur der, daß Kranker in Berlin leben könne. Wir wollen uns (aus dem schon oben<lb/> angedeuteten Grunde) über die Frage des unehrbaren Zweckes hier nicht weiter<lb/> aussprechen. Daß sie aber nicht damit abgethan ist, daß man sagt: „Es<lb/> ist doch nicht nnehrbar, in Berlin zu leben," liegt aus der Hand. Un¬<lb/> willkürlich wird man bei dieser Betrachtungsweise an die neulich in diesen<lb/> Blättern geführte Klage erinnert, daß die Ausbildung unsrer Richter auf<lb/> dem Gebiete des öffentlichen Rechtes außerordentlich viel zu wünschen übrig<lb/> lasse. Bei der materiellen Schwäche dieser Auslassungen fällt übrigens der<lb/> formelle Mangel eines Berufes zu solchen umso schwerer in die Wagschale.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0328]
Line mündliche Verhandlung, wie sie nicht sein soll,
nehmen doch keinen Anstand, jenes vorgrcifliche Urteil des Vorsitzenden auch
materiell hier zu besprechen, teils weil dasselbe ganz unberufen ausgesprochen,
teils weil es offenbar haltlos ist. Wissen wir anch nicht genau, was der Anwalt
des Klägers vorgetragen und was deshalb der Vorsitzende unter den „Poli¬
tischen Geschichten" verstanden hat, die er als nicht zur Sache gehörig zurück¬
weist, so ist doch soviel klar, daß der vorliegende Prozeß ohne Verständnis der
politischen Bedeutung des in Art, 32 der Reichsverfassung enthaltenen Verbots
für Rcichstagsmitgliedcr, Besoldung oder Entschädigung zu beziehen, nicht ent¬
schieden werden kann. Und der Ausspruch des Vorsitzende«: „Wir haben hier
nicht über politische, sondern über privatrechtliche Verhältnisse zu urteilen," ist,
so wie er dasteht, jedenfalls höchst auffüllig. Sehen wir nun aber weiter, mit
welchem überwiegenden Verständnis unser Redner die Sache vom rein privat-
rechtlichen Standpunkte beurteilt! Er sieht in der Entgegennahme von Diäten
kein „Rechtsgeschäft." Denn wo sind die „Kontrahenten"? Er kann in deren
Hingabe anch leine Zahlung erkennen. Denn Zahlung ist doch nur „Lösung
einer vorher gegangenen Verbindlichkeit." Wir gestehen, daß diese Jurisprudenz
uns einen wahrhaft schmerzlichen Eindruck gemacht hat. Der Redner scheint
kein andres Rechtsgeschäft zu kennen als ein solches, wo zwei Kontrahenten
einander gegenübertreten und eine Art Stipulation abschließen: LxonÄösno
milli älM? ZxoirÄöo! Und weil das römische Wort »olatio in den Lehr¬
büchern mit „Zahlung" übersetzt wird, so ist ihm jeder Begriff von Zahlung,
die nicht eine „Lösung" ist, unbekannt. Denken wir uns nun folgenden Fall, An
einer Straßenecke steht ein Dienstmann. Ein Vorübergehender drückt ihm ein
Zwanzigmarkstück in die Hand und sagt ihm: „Dafür werfen Sie hente Abend
dem L, die Fenster ein," Der Dienstmann nimmt das Geld lächelnd und
spricht kein Wort. Aber abends geht er hin und läßt die Fenster des T.
klirren. Hat er nun ein „Rechtsgeschäft" abgeschlossen? Hat er eine „Zahlung"
empfangen? Unsre Autorität wird sagen: Nein! Ich sehe von dem allen
nichts! Und doch wird ein verständiger Mensch, wenn er nicht gerade das
Unglück hat, Jurist zu sein, nicht daran zweifeln. Nach dieser Entwicklung von
Jurisprudenz ist es auch uicht zu verwundern, daß unser Redner weiter die
Frage stellt: Wo steckt denn der „nicht ehrbare" Zweck? Der Zweck war doch
nur der, daß Kranker in Berlin leben könne. Wir wollen uns (aus dem schon oben
angedeuteten Grunde) über die Frage des unehrbaren Zweckes hier nicht weiter
aussprechen. Daß sie aber nicht damit abgethan ist, daß man sagt: „Es
ist doch nicht nnehrbar, in Berlin zu leben," liegt aus der Hand. Un¬
willkürlich wird man bei dieser Betrachtungsweise an die neulich in diesen
Blättern geführte Klage erinnert, daß die Ausbildung unsrer Richter auf
dem Gebiete des öffentlichen Rechtes außerordentlich viel zu wünschen übrig
lasse. Bei der materiellen Schwäche dieser Auslassungen fällt übrigens der
formelle Mangel eines Berufes zu solchen umso schwerer in die Wagschale.
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