Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.englischen Selfgovernment darstellte, daß das letztere in einer Übernahme staat¬ Von allen diesen Grundsätzen war man ans dem Kontinente bis in die Theoretisch läßt sich das alles mit den schönsten und unwiderleglichsten Trotz dieses so außerordentlichen Mißerfolges in der praktischen Durchführung englischen Selfgovernment darstellte, daß das letztere in einer Übernahme staat¬ Von allen diesen Grundsätzen war man ans dem Kontinente bis in die Theoretisch läßt sich das alles mit den schönsten und unwiderleglichsten Trotz dieses so außerordentlichen Mißerfolges in der praktischen Durchführung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0298" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197722"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_886" prev="#ID_885"> englischen Selfgovernment darstellte, daß das letztere in einer Übernahme staat¬<lb/> licher Pflichten durch die besitzenden Klassen bestand, daß lediglich die im Grunde<lb/> genommen doch nur wenigen Tausend an Bildung und Besitz privilegirter<lb/> Personen sich in der Ausübung der politischen Pflichten und Rechte teilten, und<lb/> daß endlich innerhalb derselben nur zwei mehr historisch entstandene als innerlich<lb/> tief begründete Gegensätze einander bekämpften.</p><lb/> <p xml:id="ID_887"> Von allen diesen Grundsätzen war man ans dem Kontinente bis in die<lb/> neueste Zeit nicht unterrichtet. Die Kenntnis englischer Verfassungsnormen wurde<lb/> durch Montesquieu, der sie zum Teil nur halb und diese Hülste falsch verstanden<lb/> hatte, seinen Landsleuten und deren Nachbarn übermittelt. Als Quintessenz<lb/> englischer Freiheit faßte man die Entscheidung durch die Mehrheit der Gewählten<lb/> auf, und so bietet uns die erste französische Revolution in ihren verschiedensten<lb/> Verfassungen ebenso viele Versuche dar, diese Herrschaft einer uur nach den<lb/> vier Rechenspezies geschaffenen Mehrheit zu gestalten. Ohne Rücksicht auf die<lb/> Entwicklung, welche eine Jahrhunderte alte Gesellschaft genommen hatte, ohne<lb/> Rücksicht auf die sozialen Unterschiede, wie sie durch Besitz, Beruf und Bildung<lb/> mit Naturnotwendigkeit eintreten müssen, wird das allgemeine Wahlrecht und<lb/> die Entscheidung durch die numerische Mehrheit zum Schiboleth gemacht. Es<lb/> erscheint nur folgerichtig, wenn das Wahlprinzip, welches für die obersten Ver¬<lb/> treter des Volkes im Parlamente gilt, auf alle andern Zweige des öffentlichen<lb/> Dienstes angewendet wird, wenn man nicht bloß die Vertreter der Bezirke und<lb/> Kreise nach den gleichen Grundsätzen wählt, sondern nach diesen auch Justiz,<lb/> Verwaltung und Unterricht besetzt. Gewählt wird von der Mehrheit der Be¬<lb/> wohner der Schulmeister wie der Steuereinnehmer, der Präfekt wie der Staats¬<lb/> anwalt und die Richter sämtlicher Instanzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_888"> Theoretisch läßt sich das alles mit den schönsten und unwiderleglichsten<lb/> Gründen rechtfertigen; damit diese Einrichtungen aber auch die Bedürfnisse des<lb/> Lebens befriedigten, dazu wären Menschen notwendig, wie sie vor dem Sünden¬<lb/> fall waren. Nachdem aber einmal die Kenntnis des Guten und Bösen auf<lb/> die Welt gekommen ist, entscheidet in vielen Fällen nur die Selbstsucht oder<lb/> die Verblendung, zumal wenn bei der Entscheidung die Kopfzahl den Ausschlag<lb/> giebt. Die Franzosen haben auch mit dieser doktrinären Prinzipienreiterei ein<lb/> klägliches Fiasko gemacht; das abstrakt philosophische Regiment konnte sich selbst<lb/> mit Hilfe der Guillotine nicht behaupten; als es zusammenbrach, trat die Herr¬<lb/> schaft des Säbels ein.</p><lb/> <p xml:id="ID_889" next="#ID_890"> Trotz dieses so außerordentlichen Mißerfolges in der praktischen Durchführung<lb/> hat man in Frankreich immer wieder das parlamentarische Regime wenigstens<lb/> aus dem allgemeinen Schiffbruch zu retten gesucht. Man ist nicht wieder darauf<lb/> zurückgekommen, das allgemeine Wahlprinzip auf alle staatlichen Funktionen<lb/> anzuwenden. Aber für die Teilnahme an den höchsten Geschäften des Landes<lb/> hält man es aufrecht, und weil man Jahrhunderte lang in England die Herr-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0298]
englischen Selfgovernment darstellte, daß das letztere in einer Übernahme staat¬
licher Pflichten durch die besitzenden Klassen bestand, daß lediglich die im Grunde
genommen doch nur wenigen Tausend an Bildung und Besitz privilegirter
Personen sich in der Ausübung der politischen Pflichten und Rechte teilten, und
daß endlich innerhalb derselben nur zwei mehr historisch entstandene als innerlich
tief begründete Gegensätze einander bekämpften.
Von allen diesen Grundsätzen war man ans dem Kontinente bis in die
neueste Zeit nicht unterrichtet. Die Kenntnis englischer Verfassungsnormen wurde
durch Montesquieu, der sie zum Teil nur halb und diese Hülste falsch verstanden
hatte, seinen Landsleuten und deren Nachbarn übermittelt. Als Quintessenz
englischer Freiheit faßte man die Entscheidung durch die Mehrheit der Gewählten
auf, und so bietet uns die erste französische Revolution in ihren verschiedensten
Verfassungen ebenso viele Versuche dar, diese Herrschaft einer uur nach den
vier Rechenspezies geschaffenen Mehrheit zu gestalten. Ohne Rücksicht auf die
Entwicklung, welche eine Jahrhunderte alte Gesellschaft genommen hatte, ohne
Rücksicht auf die sozialen Unterschiede, wie sie durch Besitz, Beruf und Bildung
mit Naturnotwendigkeit eintreten müssen, wird das allgemeine Wahlrecht und
die Entscheidung durch die numerische Mehrheit zum Schiboleth gemacht. Es
erscheint nur folgerichtig, wenn das Wahlprinzip, welches für die obersten Ver¬
treter des Volkes im Parlamente gilt, auf alle andern Zweige des öffentlichen
Dienstes angewendet wird, wenn man nicht bloß die Vertreter der Bezirke und
Kreise nach den gleichen Grundsätzen wählt, sondern nach diesen auch Justiz,
Verwaltung und Unterricht besetzt. Gewählt wird von der Mehrheit der Be¬
wohner der Schulmeister wie der Steuereinnehmer, der Präfekt wie der Staats¬
anwalt und die Richter sämtlicher Instanzen.
Theoretisch läßt sich das alles mit den schönsten und unwiderleglichsten
Gründen rechtfertigen; damit diese Einrichtungen aber auch die Bedürfnisse des
Lebens befriedigten, dazu wären Menschen notwendig, wie sie vor dem Sünden¬
fall waren. Nachdem aber einmal die Kenntnis des Guten und Bösen auf
die Welt gekommen ist, entscheidet in vielen Fällen nur die Selbstsucht oder
die Verblendung, zumal wenn bei der Entscheidung die Kopfzahl den Ausschlag
giebt. Die Franzosen haben auch mit dieser doktrinären Prinzipienreiterei ein
klägliches Fiasko gemacht; das abstrakt philosophische Regiment konnte sich selbst
mit Hilfe der Guillotine nicht behaupten; als es zusammenbrach, trat die Herr¬
schaft des Säbels ein.
Trotz dieses so außerordentlichen Mißerfolges in der praktischen Durchführung
hat man in Frankreich immer wieder das parlamentarische Regime wenigstens
aus dem allgemeinen Schiffbruch zu retten gesucht. Man ist nicht wieder darauf
zurückgekommen, das allgemeine Wahlprinzip auf alle staatlichen Funktionen
anzuwenden. Aber für die Teilnahme an den höchsten Geschäften des Landes
hält man es aufrecht, und weil man Jahrhunderte lang in England die Herr-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |