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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Parlamentarische Betrachtungen.

schaft der Whigs und Tories abwechseln sah und seit einigen Menschenaltern
dort die Minister aus einer der beiden Parteien, je nachdem diese oder jene die
Mehrheit hatte, genommen wurden, so wurde vom Liberalisinus der Satz auf¬
gestellt, daß die Minister der Krone oder des Staatsoberhauptes jedesmal aus
der Mehrheit hervorgehen müßten. Einmal aufgestellt, begann dieser Grundsatz
anch in seinen Details näher ausgebildet zu werden; man schied in den parla¬
mentarischen Abstimmungen solche, welche als Vertrauensfrage gelten, und solche,
welche gleich giltiger Natur sind, und zwang bei einer Niederlage bezüglich der
erstern das Ministerium zum Rücktritt und das Staatsoberhaupt zu einer Neu¬
wahl seiner Räte aus dem Schoße der neuen Kammermehrheit. Entscheidend
aber sah man nur die Mehrheit in der Wahlkammer an.

In Deutschland fanden zu der maßgebenden Zeit die Begriffe von Ver¬
fassung und Parlamentarismus durch Frankreich Eingang. Die französischen
Revolutionskriege und die napoleonische Weltherrschaft haben nicht wenig für
diese Propaganda gewirkt. Kaum war in den Freiheitskriegen das Joch der
Fremdherrschaft abgeschüttelt, so bezog das junge Deutschland die Rezepte für
die Verwirklichung seiner dunkeln, verschwommenen Freiheitsideale aus der
Metropole an der Seine. Die erst kürzlich gegeißelte Neigung des Deutschen
zur Auslcinderei trug nicht wenig zu dieser Vergötterung des französischen
Liberalismus in Deutschland bei. Als im Jahre 1848 die große Bewegung bei
uns eintrat, galt in den maßgebenden Kreisen nur das französische Lied als
Leitmotiv. Zwar gelang es noch dem Widerstande der Regierungen, nicht alle
Konsequenzen des doktrinären französischen Liberalismus in die Verfasfungs-
urkunden aufzunehmen. Aber der Hauptgrundsätze desselben konnten sie sich
nicht erwehren, und diese sind immerhin genügend, um von ihrem Anhange zum
Ausbau in dem erwähnten Sinne benutzt zu werden. Das Verlangen nach
Herrschaft der jedesmaligen Parlamentsmehrheit gehört zu dem Programm der
Fortschrittspartei, der Demokraten und Sozialdemokraten, von denen sich die
letztern freilich mit diesem Satze nicht mehr begnügen.

Der Probirstein des öffentlichen Rechtes ist die Zeit der Krisis. So lange
schablonenmäßig nach einer bestimmten Reihe von Jahren Whigs und Tories
abwechselten und eine dritte Partei nicht im Spiele war, ging alles ruhig vor
sich. Beide Parteien hatten, wie ihnen zugestanden werden muß, gleichmäßig
das Interesse des Staates und ihrer Partei im Auge; sie traten, wenn sie genug
regiert hatten, gern von der Negierung wieder ab, um "Ihrer Majestät aller-
getreueste Opposition" zu werden; wußten sie doch, daß nach einem bestimmten
Zeitraume sie wieder Hammer werden würden. Die Parteien standen einander
auch nicht schroff gegenüber; es war eigentlich nur eine kleine anständige Ge¬
sellschaft, wvhlbegütert und wohlgebildet, die in abwechselndem Turnus die
öffentlichen Geschäfte vielfach um Ehre führte. Es kam hierzu die insulare Lage
des Reiches, welches seit Jahrhunderten nicht mehr um seine Unabhängigkeit zu


Parlamentarische Betrachtungen.

schaft der Whigs und Tories abwechseln sah und seit einigen Menschenaltern
dort die Minister aus einer der beiden Parteien, je nachdem diese oder jene die
Mehrheit hatte, genommen wurden, so wurde vom Liberalisinus der Satz auf¬
gestellt, daß die Minister der Krone oder des Staatsoberhauptes jedesmal aus
der Mehrheit hervorgehen müßten. Einmal aufgestellt, begann dieser Grundsatz
anch in seinen Details näher ausgebildet zu werden; man schied in den parla¬
mentarischen Abstimmungen solche, welche als Vertrauensfrage gelten, und solche,
welche gleich giltiger Natur sind, und zwang bei einer Niederlage bezüglich der
erstern das Ministerium zum Rücktritt und das Staatsoberhaupt zu einer Neu¬
wahl seiner Räte aus dem Schoße der neuen Kammermehrheit. Entscheidend
aber sah man nur die Mehrheit in der Wahlkammer an.

In Deutschland fanden zu der maßgebenden Zeit die Begriffe von Ver¬
fassung und Parlamentarismus durch Frankreich Eingang. Die französischen
Revolutionskriege und die napoleonische Weltherrschaft haben nicht wenig für
diese Propaganda gewirkt. Kaum war in den Freiheitskriegen das Joch der
Fremdherrschaft abgeschüttelt, so bezog das junge Deutschland die Rezepte für
die Verwirklichung seiner dunkeln, verschwommenen Freiheitsideale aus der
Metropole an der Seine. Die erst kürzlich gegeißelte Neigung des Deutschen
zur Auslcinderei trug nicht wenig zu dieser Vergötterung des französischen
Liberalismus in Deutschland bei. Als im Jahre 1848 die große Bewegung bei
uns eintrat, galt in den maßgebenden Kreisen nur das französische Lied als
Leitmotiv. Zwar gelang es noch dem Widerstande der Regierungen, nicht alle
Konsequenzen des doktrinären französischen Liberalismus in die Verfasfungs-
urkunden aufzunehmen. Aber der Hauptgrundsätze desselben konnten sie sich
nicht erwehren, und diese sind immerhin genügend, um von ihrem Anhange zum
Ausbau in dem erwähnten Sinne benutzt zu werden. Das Verlangen nach
Herrschaft der jedesmaligen Parlamentsmehrheit gehört zu dem Programm der
Fortschrittspartei, der Demokraten und Sozialdemokraten, von denen sich die
letztern freilich mit diesem Satze nicht mehr begnügen.

Der Probirstein des öffentlichen Rechtes ist die Zeit der Krisis. So lange
schablonenmäßig nach einer bestimmten Reihe von Jahren Whigs und Tories
abwechselten und eine dritte Partei nicht im Spiele war, ging alles ruhig vor
sich. Beide Parteien hatten, wie ihnen zugestanden werden muß, gleichmäßig
das Interesse des Staates und ihrer Partei im Auge; sie traten, wenn sie genug
regiert hatten, gern von der Negierung wieder ab, um „Ihrer Majestät aller-
getreueste Opposition" zu werden; wußten sie doch, daß nach einem bestimmten
Zeitraume sie wieder Hammer werden würden. Die Parteien standen einander
auch nicht schroff gegenüber; es war eigentlich nur eine kleine anständige Ge¬
sellschaft, wvhlbegütert und wohlgebildet, die in abwechselndem Turnus die
öffentlichen Geschäfte vielfach um Ehre führte. Es kam hierzu die insulare Lage
des Reiches, welches seit Jahrhunderten nicht mehr um seine Unabhängigkeit zu


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[0299] Parlamentarische Betrachtungen. schaft der Whigs und Tories abwechseln sah und seit einigen Menschenaltern dort die Minister aus einer der beiden Parteien, je nachdem diese oder jene die Mehrheit hatte, genommen wurden, so wurde vom Liberalisinus der Satz auf¬ gestellt, daß die Minister der Krone oder des Staatsoberhauptes jedesmal aus der Mehrheit hervorgehen müßten. Einmal aufgestellt, begann dieser Grundsatz anch in seinen Details näher ausgebildet zu werden; man schied in den parla¬ mentarischen Abstimmungen solche, welche als Vertrauensfrage gelten, und solche, welche gleich giltiger Natur sind, und zwang bei einer Niederlage bezüglich der erstern das Ministerium zum Rücktritt und das Staatsoberhaupt zu einer Neu¬ wahl seiner Räte aus dem Schoße der neuen Kammermehrheit. Entscheidend aber sah man nur die Mehrheit in der Wahlkammer an. In Deutschland fanden zu der maßgebenden Zeit die Begriffe von Ver¬ fassung und Parlamentarismus durch Frankreich Eingang. Die französischen Revolutionskriege und die napoleonische Weltherrschaft haben nicht wenig für diese Propaganda gewirkt. Kaum war in den Freiheitskriegen das Joch der Fremdherrschaft abgeschüttelt, so bezog das junge Deutschland die Rezepte für die Verwirklichung seiner dunkeln, verschwommenen Freiheitsideale aus der Metropole an der Seine. Die erst kürzlich gegeißelte Neigung des Deutschen zur Auslcinderei trug nicht wenig zu dieser Vergötterung des französischen Liberalismus in Deutschland bei. Als im Jahre 1848 die große Bewegung bei uns eintrat, galt in den maßgebenden Kreisen nur das französische Lied als Leitmotiv. Zwar gelang es noch dem Widerstande der Regierungen, nicht alle Konsequenzen des doktrinären französischen Liberalismus in die Verfasfungs- urkunden aufzunehmen. Aber der Hauptgrundsätze desselben konnten sie sich nicht erwehren, und diese sind immerhin genügend, um von ihrem Anhange zum Ausbau in dem erwähnten Sinne benutzt zu werden. Das Verlangen nach Herrschaft der jedesmaligen Parlamentsmehrheit gehört zu dem Programm der Fortschrittspartei, der Demokraten und Sozialdemokraten, von denen sich die letztern freilich mit diesem Satze nicht mehr begnügen. Der Probirstein des öffentlichen Rechtes ist die Zeit der Krisis. So lange schablonenmäßig nach einer bestimmten Reihe von Jahren Whigs und Tories abwechselten und eine dritte Partei nicht im Spiele war, ging alles ruhig vor sich. Beide Parteien hatten, wie ihnen zugestanden werden muß, gleichmäßig das Interesse des Staates und ihrer Partei im Auge; sie traten, wenn sie genug regiert hatten, gern von der Negierung wieder ab, um „Ihrer Majestät aller- getreueste Opposition" zu werden; wußten sie doch, daß nach einem bestimmten Zeitraume sie wieder Hammer werden würden. Die Parteien standen einander auch nicht schroff gegenüber; es war eigentlich nur eine kleine anständige Ge¬ sellschaft, wvhlbegütert und wohlgebildet, die in abwechselndem Turnus die öffentlichen Geschäfte vielfach um Ehre führte. Es kam hierzu die insulare Lage des Reiches, welches seit Jahrhunderten nicht mehr um seine Unabhängigkeit zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/299>, abgerufen am 05.02.2025.