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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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originellen westfälischen Menschengestalten, zwischen denen sich Schückings Jugend-
leben bewegte. Vor allem die Eltern, der Vater eine leidenschaftlich bewegte Natur,
voll Geist, Witz und vielseitiger Bildung, der leider bis ans Ende nicht lernte,
sich als praktischer Mann in die reale Welt und ihre Notwendigkeiten zu schicken,
die Mutter innerlich reich, wahrhaft poetisch begabt, eine Freundin der großen
Dichterin Annette Droste-Hülshoff, dann der Hauslehrer Claasen, ein milder
Geistlicher, "im Stillen ein Stück vom savohardischen Vikar," die Edelleute, die
auf ihren weltfernen Höfen im Emsthal saßen, der Großvater in Münster, zu
dem der Knabe von Zeit zu Zeit geschickt wurde, alles waren absonderliche, die
Phantasie und Sinnesrichtung Schückings aus dem Alltäglichen heranstreibende
Naturen.

Die Studienzeit Schückings in München, Bonn und Göttingen war im
Vergleich zu deu Eindrücken der Knabenjahre und seiner Ghmnasiastentnge in
Münster und Osnabrück beinahe arm zu nennen. Dem Rcchtsstndinm ohne
innern Zug obliegend, hörte er nur die notwendigsten Kollegien, trieb aber
nebenbei "mit größerm Eifer geschichtliche und kulturgeschichtliche Studien der
Literatur des Mittelalters, der Prooem^aler, der südlichen Nationen und folgte
dem lebhaft erwachenden Triebe eignen Schaffens." Eine Familienkatastrophe,
die durch die Enthebung des Vaters von seinem Amte und die Auswanderung
desselben nach Amerika eintrat, führte dazu, daß der junge Jurist und Dichter
in dem Augenblicke, wo er die Staatsprüfungen ablegen mußte, ohne alle Mittel,
die langen, unbesoldeten Vvrbercitungsjahre zum Staatsdienste zu überstehen,
hilflos und ganz auf sich selbst angewiesen dastand. Da schien es Schücking
denn richtig, ohne langes Besinnen sich zu den Hilfsquellen zu wenden, welche
sich ihm in seinen Allotrien öffneten, die erworbne Kenntnis der neuern Sprachen
und die Feder mußten ihn über die nächsten Jahre hinweghelfen, es kamen die
schweren Zeiten, die keinem jüngern Schriftsteller, wenigstens keinem, der die
Literatur nud sich selbst achtet, völlig erspart bleiben, es dauerte lange, bis er
eine "kleine, zerbrechliche Selbständigkeit gewann."

Die Freundschaft Annelees von Droste, welche von seiner Mutter auf ihn
selbst übergegangen war, vermittelte dem strebenden Jüngling die Aufnahme bei
ihrem Schwager, dem berühmten Germanisten Freiherrn Josef von Laßberg auf
Schloß Mersburg am Bodensee. Schücking hatte hier die reiche Bibliothek und
den unschätzbaren Handschriftenbesitz des Freiherrn, des Meister Sepp von
Eppishusen, zu katalvgisiren. Dabei gab es "eine Welt von neuen Eindrücken
zu verarbeiten -- eine ganz fremde und eigenartige Welt; Naturszenerien
großartigster Schönheit, beim volltönenden Klänge großer Namen erstehende
Gestalten der Vergangenheit; bei jedem Anlaß sich ergebende bedeutungsvolle
Beziehungen zu verehrten Männern der Gegenwart. Da war das schwäbische
Meer, in dessen Flut sich die Türme des alten Kosemitz spiegelten, wie das
Gelände des blühenden Thnrgaus, wie die Alpenkette der "sieben Kurfürsten"


originellen westfälischen Menschengestalten, zwischen denen sich Schückings Jugend-
leben bewegte. Vor allem die Eltern, der Vater eine leidenschaftlich bewegte Natur,
voll Geist, Witz und vielseitiger Bildung, der leider bis ans Ende nicht lernte,
sich als praktischer Mann in die reale Welt und ihre Notwendigkeiten zu schicken,
die Mutter innerlich reich, wahrhaft poetisch begabt, eine Freundin der großen
Dichterin Annette Droste-Hülshoff, dann der Hauslehrer Claasen, ein milder
Geistlicher, „im Stillen ein Stück vom savohardischen Vikar," die Edelleute, die
auf ihren weltfernen Höfen im Emsthal saßen, der Großvater in Münster, zu
dem der Knabe von Zeit zu Zeit geschickt wurde, alles waren absonderliche, die
Phantasie und Sinnesrichtung Schückings aus dem Alltäglichen heranstreibende
Naturen.

Die Studienzeit Schückings in München, Bonn und Göttingen war im
Vergleich zu deu Eindrücken der Knabenjahre und seiner Ghmnasiastentnge in
Münster und Osnabrück beinahe arm zu nennen. Dem Rcchtsstndinm ohne
innern Zug obliegend, hörte er nur die notwendigsten Kollegien, trieb aber
nebenbei „mit größerm Eifer geschichtliche und kulturgeschichtliche Studien der
Literatur des Mittelalters, der Prooem^aler, der südlichen Nationen und folgte
dem lebhaft erwachenden Triebe eignen Schaffens." Eine Familienkatastrophe,
die durch die Enthebung des Vaters von seinem Amte und die Auswanderung
desselben nach Amerika eintrat, führte dazu, daß der junge Jurist und Dichter
in dem Augenblicke, wo er die Staatsprüfungen ablegen mußte, ohne alle Mittel,
die langen, unbesoldeten Vvrbercitungsjahre zum Staatsdienste zu überstehen,
hilflos und ganz auf sich selbst angewiesen dastand. Da schien es Schücking
denn richtig, ohne langes Besinnen sich zu den Hilfsquellen zu wenden, welche
sich ihm in seinen Allotrien öffneten, die erworbne Kenntnis der neuern Sprachen
und die Feder mußten ihn über die nächsten Jahre hinweghelfen, es kamen die
schweren Zeiten, die keinem jüngern Schriftsteller, wenigstens keinem, der die
Literatur nud sich selbst achtet, völlig erspart bleiben, es dauerte lange, bis er
eine „kleine, zerbrechliche Selbständigkeit gewann."

Die Freundschaft Annelees von Droste, welche von seiner Mutter auf ihn
selbst übergegangen war, vermittelte dem strebenden Jüngling die Aufnahme bei
ihrem Schwager, dem berühmten Germanisten Freiherrn Josef von Laßberg auf
Schloß Mersburg am Bodensee. Schücking hatte hier die reiche Bibliothek und
den unschätzbaren Handschriftenbesitz des Freiherrn, des Meister Sepp von
Eppishusen, zu katalvgisiren. Dabei gab es „eine Welt von neuen Eindrücken
zu verarbeiten — eine ganz fremde und eigenartige Welt; Naturszenerien
großartigster Schönheit, beim volltönenden Klänge großer Namen erstehende
Gestalten der Vergangenheit; bei jedem Anlaß sich ergebende bedeutungsvolle
Beziehungen zu verehrten Männern der Gegenwart. Da war das schwäbische
Meer, in dessen Flut sich die Türme des alten Kosemitz spiegelten, wie das
Gelände des blühenden Thnrgaus, wie die Alpenkette der „sieben Kurfürsten"


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[0278] originellen westfälischen Menschengestalten, zwischen denen sich Schückings Jugend- leben bewegte. Vor allem die Eltern, der Vater eine leidenschaftlich bewegte Natur, voll Geist, Witz und vielseitiger Bildung, der leider bis ans Ende nicht lernte, sich als praktischer Mann in die reale Welt und ihre Notwendigkeiten zu schicken, die Mutter innerlich reich, wahrhaft poetisch begabt, eine Freundin der großen Dichterin Annette Droste-Hülshoff, dann der Hauslehrer Claasen, ein milder Geistlicher, „im Stillen ein Stück vom savohardischen Vikar," die Edelleute, die auf ihren weltfernen Höfen im Emsthal saßen, der Großvater in Münster, zu dem der Knabe von Zeit zu Zeit geschickt wurde, alles waren absonderliche, die Phantasie und Sinnesrichtung Schückings aus dem Alltäglichen heranstreibende Naturen. Die Studienzeit Schückings in München, Bonn und Göttingen war im Vergleich zu deu Eindrücken der Knabenjahre und seiner Ghmnasiastentnge in Münster und Osnabrück beinahe arm zu nennen. Dem Rcchtsstndinm ohne innern Zug obliegend, hörte er nur die notwendigsten Kollegien, trieb aber nebenbei „mit größerm Eifer geschichtliche und kulturgeschichtliche Studien der Literatur des Mittelalters, der Prooem^aler, der südlichen Nationen und folgte dem lebhaft erwachenden Triebe eignen Schaffens." Eine Familienkatastrophe, die durch die Enthebung des Vaters von seinem Amte und die Auswanderung desselben nach Amerika eintrat, führte dazu, daß der junge Jurist und Dichter in dem Augenblicke, wo er die Staatsprüfungen ablegen mußte, ohne alle Mittel, die langen, unbesoldeten Vvrbercitungsjahre zum Staatsdienste zu überstehen, hilflos und ganz auf sich selbst angewiesen dastand. Da schien es Schücking denn richtig, ohne langes Besinnen sich zu den Hilfsquellen zu wenden, welche sich ihm in seinen Allotrien öffneten, die erworbne Kenntnis der neuern Sprachen und die Feder mußten ihn über die nächsten Jahre hinweghelfen, es kamen die schweren Zeiten, die keinem jüngern Schriftsteller, wenigstens keinem, der die Literatur nud sich selbst achtet, völlig erspart bleiben, es dauerte lange, bis er eine „kleine, zerbrechliche Selbständigkeit gewann." Die Freundschaft Annelees von Droste, welche von seiner Mutter auf ihn selbst übergegangen war, vermittelte dem strebenden Jüngling die Aufnahme bei ihrem Schwager, dem berühmten Germanisten Freiherrn Josef von Laßberg auf Schloß Mersburg am Bodensee. Schücking hatte hier die reiche Bibliothek und den unschätzbaren Handschriftenbesitz des Freiherrn, des Meister Sepp von Eppishusen, zu katalvgisiren. Dabei gab es „eine Welt von neuen Eindrücken zu verarbeiten — eine ganz fremde und eigenartige Welt; Naturszenerien großartigster Schönheit, beim volltönenden Klänge großer Namen erstehende Gestalten der Vergangenheit; bei jedem Anlaß sich ergebende bedeutungsvolle Beziehungen zu verehrten Männern der Gegenwart. Da war das schwäbische Meer, in dessen Flut sich die Türme des alten Kosemitz spiegelten, wie das Gelände des blühenden Thnrgaus, wie die Alpenkette der „sieben Kurfürsten"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/278>, abgerufen am 05.02.2025.