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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Völker und Nationen gingen meistens von kirchliche" Motiven aus; die mensch¬
lichen Geschicke wurde" nur im Spiegel religiöser Vorstellungen und Dogmen
betrachtet; die innern Institutionen und .Kulturzweige bezogen sich auf christlich
religiöse Lehren, auf biblische Urkunden, auf die Zeugnisse der Evangelien, Man
teilte die ganze Universalgeschichte in zwei Teile, in die Zeit vor und in die
Zeit nach Christus, und die mosaische Schöpfungsgeschichte bildete die Grundlage
der Welt- und Völkergeschichte; die Ansichten der Heide" wurden als Irrtümer
und Täuschungen betrachtet, ihre Tugenden galten als glänzende Laster. In
dem Mittelalter, sagt Droysen in seinem "Grundriß der Historik," wird man
keine neuen Triebe wissenschaftlicher Geschichtschreibung entdecken wolle", wen"
man nicht den theologisch-konstruktiven, der hie und da durchiliugt, dafür will
gelten lassen. Wohl aber hat der und jener Historiker der Karolinger-, der
Ottonenzeit sich seine stilistische" Muster bei den Alten gesucht und seine Helden
mit ihren rhetorischen Floskeln geschmückt. Nur in Italien, wo die antike
Kultur am längsten dauerte und am ersten wieder erwachte, erhielt sich noch
eine Spur selbständiger Geschichtsauffassung. Machiavelli steht an der Stelle,
sagt Gervinus in den "Grundzügen der Historik," wo sich das Ringen nach
Aufklärung, nach Freiheit und Menschenrechten, nach Abschüttelung von Geistes-
zwang, Leibeigenschaft und Despotismus gewaltsame Bahn brach, und auch
diese neue Richtung fährt noch heute nach drei bis vier Jahrhunderte" fort,
den Fade" der Begebenheiten zu bilden.

Die Renaissance hat in der Geschichtschreibung keine neue Epoche begründet.
Wie auf dem gesamten liternrischcu Gebiete, so ist man anch in der Behandlung
der Historie auf die Alten, vorzugsweise auf die Römer, zurückgegangen. Von
ihnen entlehnte man die Form und die Sprache: nach Livius schrieb der Franzose
Thuanns (de Thon) seine Zeitgeschichte, Sleidanus seine Reformationsgeschichte;
mich Taeitus verfaßte Hugo Grotiw? die Geschichte des Abfalls der Nieder¬
lande von der spanische" Herrschaft in Annalen und Historie". Durch das
ganze sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert haftete der Historiographie dieser
Charakter an, blieben die römischen Autoren die Vorbilder. So wertvoll diese
Produktionen für die Erkenntnis der geschichtliche" Begebenheiten sein mögen,
den drei Funktionen der echten Historiographie: der kritischen Forschung, der
subjektiven Aneignung und der künstlerischen Darstellung, leiste" sie nur wenig
Genüge. Erst dem achtzehnten Jahrhundert war es vorbehalten, eine neue
Epoche der Geschichtschreibung zu begründen. Nachdem Bolingbroke und Voltaire
die Fesseln der Tradition und der teleologischen Tendenz gesprengt hatten,
stellte Gibbon ein Muster universeller Geschichte auf, worin ein philosophischer
Geist waltet und ein weiter Horizont alles Sein und Werde" in der Menschen-
welt umspannt. Unter Gibbons Meisterhand erhielt die Geschichte eine Gestalt,
die der ganzen folgenden Generation zum Vorbilde dienen kann. In seiner
Geschichte des römischen Cäsarenreiches in dem Zeitraume seines Sinkens und


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Völker und Nationen gingen meistens von kirchliche» Motiven aus; die mensch¬
lichen Geschicke wurde» nur im Spiegel religiöser Vorstellungen und Dogmen
betrachtet; die innern Institutionen und .Kulturzweige bezogen sich auf christlich
religiöse Lehren, auf biblische Urkunden, auf die Zeugnisse der Evangelien, Man
teilte die ganze Universalgeschichte in zwei Teile, in die Zeit vor und in die
Zeit nach Christus, und die mosaische Schöpfungsgeschichte bildete die Grundlage
der Welt- und Völkergeschichte; die Ansichten der Heide» wurden als Irrtümer
und Täuschungen betrachtet, ihre Tugenden galten als glänzende Laster. In
dem Mittelalter, sagt Droysen in seinem „Grundriß der Historik," wird man
keine neuen Triebe wissenschaftlicher Geschichtschreibung entdecken wolle», wen»
man nicht den theologisch-konstruktiven, der hie und da durchiliugt, dafür will
gelten lassen. Wohl aber hat der und jener Historiker der Karolinger-, der
Ottonenzeit sich seine stilistische» Muster bei den Alten gesucht und seine Helden
mit ihren rhetorischen Floskeln geschmückt. Nur in Italien, wo die antike
Kultur am längsten dauerte und am ersten wieder erwachte, erhielt sich noch
eine Spur selbständiger Geschichtsauffassung. Machiavelli steht an der Stelle,
sagt Gervinus in den „Grundzügen der Historik," wo sich das Ringen nach
Aufklärung, nach Freiheit und Menschenrechten, nach Abschüttelung von Geistes-
zwang, Leibeigenschaft und Despotismus gewaltsame Bahn brach, und auch
diese neue Richtung fährt noch heute nach drei bis vier Jahrhunderte» fort,
den Fade» der Begebenheiten zu bilden.

Die Renaissance hat in der Geschichtschreibung keine neue Epoche begründet.
Wie auf dem gesamten liternrischcu Gebiete, so ist man anch in der Behandlung
der Historie auf die Alten, vorzugsweise auf die Römer, zurückgegangen. Von
ihnen entlehnte man die Form und die Sprache: nach Livius schrieb der Franzose
Thuanns (de Thon) seine Zeitgeschichte, Sleidanus seine Reformationsgeschichte;
mich Taeitus verfaßte Hugo Grotiw? die Geschichte des Abfalls der Nieder¬
lande von der spanische» Herrschaft in Annalen und Historie». Durch das
ganze sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert haftete der Historiographie dieser
Charakter an, blieben die römischen Autoren die Vorbilder. So wertvoll diese
Produktionen für die Erkenntnis der geschichtliche» Begebenheiten sein mögen,
den drei Funktionen der echten Historiographie: der kritischen Forschung, der
subjektiven Aneignung und der künstlerischen Darstellung, leiste» sie nur wenig
Genüge. Erst dem achtzehnten Jahrhundert war es vorbehalten, eine neue
Epoche der Geschichtschreibung zu begründen. Nachdem Bolingbroke und Voltaire
die Fesseln der Tradition und der teleologischen Tendenz gesprengt hatten,
stellte Gibbon ein Muster universeller Geschichte auf, worin ein philosophischer
Geist waltet und ein weiter Horizont alles Sein und Werde» in der Menschen-
welt umspannt. Unter Gibbons Meisterhand erhielt die Geschichte eine Gestalt,
die der ganzen folgenden Generation zum Vorbilde dienen kann. In seiner
Geschichte des römischen Cäsarenreiches in dem Zeitraume seines Sinkens und


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[0268] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. Völker und Nationen gingen meistens von kirchliche» Motiven aus; die mensch¬ lichen Geschicke wurde» nur im Spiegel religiöser Vorstellungen und Dogmen betrachtet; die innern Institutionen und .Kulturzweige bezogen sich auf christlich religiöse Lehren, auf biblische Urkunden, auf die Zeugnisse der Evangelien, Man teilte die ganze Universalgeschichte in zwei Teile, in die Zeit vor und in die Zeit nach Christus, und die mosaische Schöpfungsgeschichte bildete die Grundlage der Welt- und Völkergeschichte; die Ansichten der Heide» wurden als Irrtümer und Täuschungen betrachtet, ihre Tugenden galten als glänzende Laster. In dem Mittelalter, sagt Droysen in seinem „Grundriß der Historik," wird man keine neuen Triebe wissenschaftlicher Geschichtschreibung entdecken wolle», wen» man nicht den theologisch-konstruktiven, der hie und da durchiliugt, dafür will gelten lassen. Wohl aber hat der und jener Historiker der Karolinger-, der Ottonenzeit sich seine stilistische» Muster bei den Alten gesucht und seine Helden mit ihren rhetorischen Floskeln geschmückt. Nur in Italien, wo die antike Kultur am längsten dauerte und am ersten wieder erwachte, erhielt sich noch eine Spur selbständiger Geschichtsauffassung. Machiavelli steht an der Stelle, sagt Gervinus in den „Grundzügen der Historik," wo sich das Ringen nach Aufklärung, nach Freiheit und Menschenrechten, nach Abschüttelung von Geistes- zwang, Leibeigenschaft und Despotismus gewaltsame Bahn brach, und auch diese neue Richtung fährt noch heute nach drei bis vier Jahrhunderte» fort, den Fade» der Begebenheiten zu bilden. Die Renaissance hat in der Geschichtschreibung keine neue Epoche begründet. Wie auf dem gesamten liternrischcu Gebiete, so ist man anch in der Behandlung der Historie auf die Alten, vorzugsweise auf die Römer, zurückgegangen. Von ihnen entlehnte man die Form und die Sprache: nach Livius schrieb der Franzose Thuanns (de Thon) seine Zeitgeschichte, Sleidanus seine Reformationsgeschichte; mich Taeitus verfaßte Hugo Grotiw? die Geschichte des Abfalls der Nieder¬ lande von der spanische» Herrschaft in Annalen und Historie». Durch das ganze sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert haftete der Historiographie dieser Charakter an, blieben die römischen Autoren die Vorbilder. So wertvoll diese Produktionen für die Erkenntnis der geschichtliche» Begebenheiten sein mögen, den drei Funktionen der echten Historiographie: der kritischen Forschung, der subjektiven Aneignung und der künstlerischen Darstellung, leiste» sie nur wenig Genüge. Erst dem achtzehnten Jahrhundert war es vorbehalten, eine neue Epoche der Geschichtschreibung zu begründen. Nachdem Bolingbroke und Voltaire die Fesseln der Tradition und der teleologischen Tendenz gesprengt hatten, stellte Gibbon ein Muster universeller Geschichte auf, worin ein philosophischer Geist waltet und ein weiter Horizont alles Sein und Werde» in der Menschen- welt umspannt. Unter Gibbons Meisterhand erhielt die Geschichte eine Gestalt, die der ganzen folgenden Generation zum Vorbilde dienen kann. In seiner Geschichte des römischen Cäsarenreiches in dem Zeitraume seines Sinkens und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/268>, abgerufen am 05.02.2025.