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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Falles ist gelehrte Forschung mit subjektiver Verarbeitung und künstlerischer
Formgestaltung vereinigt und ein architektonisches Schatzhaus errichtet, worin
alle edeln Güter der Menschheit, alle Errungenschaften des geistigen Schaffens
wie der Werke der Hand aufgestellt sind. Der Gibbvnsche Geschichtstempel ruht
auf festen Fundamenten und ist von außen wie im Innern harmonisch entworfen
und ausgeführt. Mau mag gegen das Werk einwenden, daß die Subjektivität
des Verfassers allzu sehr in deu Vordergrund tritt, daß seine Weltanschauung
in der Atmosphäre der französischen Encyklopädisten und der Ausilärungsphilo-
svphic wurzelt, daß der Geist, der über deu Wassern schwebt, der Erde zu nahe
gerückt, der Verstandesrichtung der Zeit zu sehr angepaßt ist; man mag in ein¬
zelnen Dingen die kritische Genauigkeit vermissen; dennoch steht fest, daß kein andres
Geschichtsbuch vor und nach Gibbon einen so durchschlagenden Erfolg gehabt,
der Historiographie einen so fruchtbaren Boden bereitet, eine so sichere Um¬
grenzung und Stoffverteilung zugewiesen hat. Gibbons umfangreiches Werk,
das eine Weltgeschichte des ersten christliche" Jahrtausends und darüber um¬
faßt, ist in zahllosen Ausgaben und in dem verschiedensten Format über die
ganze gebildete Welt verbreitet. Wie Shakespeare für das Drama eine neue
Ära begründet hat, so Gibbon für die moderne Historik. In seiner Geschichte
findet neben den politischen und kriegerischen Stnatsaktiouen auch die sittliche
Welt, wie sie sich in den öffentlichen Institutionen, in Religion und Kirche,
im Gerichtswesen und in den Regiernngsorgaueu ausgeprägt hat, ihre ent¬
wickelnde Darstellung. Dabei ist das Werk frei von der pessimistischen Welt-
anschauung eines Tacitus, über das Ganze ist ein Hauch heiterer Anmut aus¬
gegossen, der bisweilen einen Zug von Ironie gegen die traditionellen
Auffassungen an sich trägt. Es ist das Produkt einer Zeit, die bestrebt war,
aus dem überkommenen Vorräte neue Lebenskeime zu schaffen, das Erbteil der
Väter durch Reformen wertvoller zu machen und mit neuer Ausstattung zu be¬
reichern. Gibbon gehörte zu dem titanischen Geschlechte, das im Vollgefühle seiner
Kraft kühn die .Himmelsleiter hinanstieg, um die Welt der Ideen näher zuschauen.

Gibbon hat in der systematischen Behandlung des historischen Stoffes ein
Vorbild geschaffen, wie man die wachsende Fülle des geschichtlichen Materials
bewältigen, durchdringen und gestalten müsse, um ein wohlgefälliges, das innere
Geistes- und Gemütsleben anregendes Kunstwerk zu schaffen. Und so sehr
haben die Zeitgenossen und die nächste Generation diese Vorzüge anerkannt,
daß Niebuhr bei der Abfassung seiner römischen Geschichte die Absicht aus-
sprach, ein Werk zu schaffen, das der römischen Kaiscrgeschichte des britischen
Historikers als Vorläufer dienen sollte, und daß Schlosser in der Geschichte
der bilderstürmenden Kaiser nur solche Seite" behandelte, die Gibbon garnicht
oder nur flüchtig berührt hatte.

Man hat mit Recht die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das
Philosophische Zeitalter genannt und Voltaire als das befruchtende Haupt


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Falles ist gelehrte Forschung mit subjektiver Verarbeitung und künstlerischer
Formgestaltung vereinigt und ein architektonisches Schatzhaus errichtet, worin
alle edeln Güter der Menschheit, alle Errungenschaften des geistigen Schaffens
wie der Werke der Hand aufgestellt sind. Der Gibbvnsche Geschichtstempel ruht
auf festen Fundamenten und ist von außen wie im Innern harmonisch entworfen
und ausgeführt. Mau mag gegen das Werk einwenden, daß die Subjektivität
des Verfassers allzu sehr in deu Vordergrund tritt, daß seine Weltanschauung
in der Atmosphäre der französischen Encyklopädisten und der Ausilärungsphilo-
svphic wurzelt, daß der Geist, der über deu Wassern schwebt, der Erde zu nahe
gerückt, der Verstandesrichtung der Zeit zu sehr angepaßt ist; man mag in ein¬
zelnen Dingen die kritische Genauigkeit vermissen; dennoch steht fest, daß kein andres
Geschichtsbuch vor und nach Gibbon einen so durchschlagenden Erfolg gehabt,
der Historiographie einen so fruchtbaren Boden bereitet, eine so sichere Um¬
grenzung und Stoffverteilung zugewiesen hat. Gibbons umfangreiches Werk,
das eine Weltgeschichte des ersten christliche» Jahrtausends und darüber um¬
faßt, ist in zahllosen Ausgaben und in dem verschiedensten Format über die
ganze gebildete Welt verbreitet. Wie Shakespeare für das Drama eine neue
Ära begründet hat, so Gibbon für die moderne Historik. In seiner Geschichte
findet neben den politischen und kriegerischen Stnatsaktiouen auch die sittliche
Welt, wie sie sich in den öffentlichen Institutionen, in Religion und Kirche,
im Gerichtswesen und in den Regiernngsorgaueu ausgeprägt hat, ihre ent¬
wickelnde Darstellung. Dabei ist das Werk frei von der pessimistischen Welt-
anschauung eines Tacitus, über das Ganze ist ein Hauch heiterer Anmut aus¬
gegossen, der bisweilen einen Zug von Ironie gegen die traditionellen
Auffassungen an sich trägt. Es ist das Produkt einer Zeit, die bestrebt war,
aus dem überkommenen Vorräte neue Lebenskeime zu schaffen, das Erbteil der
Väter durch Reformen wertvoller zu machen und mit neuer Ausstattung zu be¬
reichern. Gibbon gehörte zu dem titanischen Geschlechte, das im Vollgefühle seiner
Kraft kühn die .Himmelsleiter hinanstieg, um die Welt der Ideen näher zuschauen.

Gibbon hat in der systematischen Behandlung des historischen Stoffes ein
Vorbild geschaffen, wie man die wachsende Fülle des geschichtlichen Materials
bewältigen, durchdringen und gestalten müsse, um ein wohlgefälliges, das innere
Geistes- und Gemütsleben anregendes Kunstwerk zu schaffen. Und so sehr
haben die Zeitgenossen und die nächste Generation diese Vorzüge anerkannt,
daß Niebuhr bei der Abfassung seiner römischen Geschichte die Absicht aus-
sprach, ein Werk zu schaffen, das der römischen Kaiscrgeschichte des britischen
Historikers als Vorläufer dienen sollte, und daß Schlosser in der Geschichte
der bilderstürmenden Kaiser nur solche Seite» behandelte, die Gibbon garnicht
oder nur flüchtig berührt hatte.

Man hat mit Recht die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das
Philosophische Zeitalter genannt und Voltaire als das befruchtende Haupt


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[0269] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. Falles ist gelehrte Forschung mit subjektiver Verarbeitung und künstlerischer Formgestaltung vereinigt und ein architektonisches Schatzhaus errichtet, worin alle edeln Güter der Menschheit, alle Errungenschaften des geistigen Schaffens wie der Werke der Hand aufgestellt sind. Der Gibbvnsche Geschichtstempel ruht auf festen Fundamenten und ist von außen wie im Innern harmonisch entworfen und ausgeführt. Mau mag gegen das Werk einwenden, daß die Subjektivität des Verfassers allzu sehr in deu Vordergrund tritt, daß seine Weltanschauung in der Atmosphäre der französischen Encyklopädisten und der Ausilärungsphilo- svphic wurzelt, daß der Geist, der über deu Wassern schwebt, der Erde zu nahe gerückt, der Verstandesrichtung der Zeit zu sehr angepaßt ist; man mag in ein¬ zelnen Dingen die kritische Genauigkeit vermissen; dennoch steht fest, daß kein andres Geschichtsbuch vor und nach Gibbon einen so durchschlagenden Erfolg gehabt, der Historiographie einen so fruchtbaren Boden bereitet, eine so sichere Um¬ grenzung und Stoffverteilung zugewiesen hat. Gibbons umfangreiches Werk, das eine Weltgeschichte des ersten christliche» Jahrtausends und darüber um¬ faßt, ist in zahllosen Ausgaben und in dem verschiedensten Format über die ganze gebildete Welt verbreitet. Wie Shakespeare für das Drama eine neue Ära begründet hat, so Gibbon für die moderne Historik. In seiner Geschichte findet neben den politischen und kriegerischen Stnatsaktiouen auch die sittliche Welt, wie sie sich in den öffentlichen Institutionen, in Religion und Kirche, im Gerichtswesen und in den Regiernngsorgaueu ausgeprägt hat, ihre ent¬ wickelnde Darstellung. Dabei ist das Werk frei von der pessimistischen Welt- anschauung eines Tacitus, über das Ganze ist ein Hauch heiterer Anmut aus¬ gegossen, der bisweilen einen Zug von Ironie gegen die traditionellen Auffassungen an sich trägt. Es ist das Produkt einer Zeit, die bestrebt war, aus dem überkommenen Vorräte neue Lebenskeime zu schaffen, das Erbteil der Väter durch Reformen wertvoller zu machen und mit neuer Ausstattung zu be¬ reichern. Gibbon gehörte zu dem titanischen Geschlechte, das im Vollgefühle seiner Kraft kühn die .Himmelsleiter hinanstieg, um die Welt der Ideen näher zuschauen. Gibbon hat in der systematischen Behandlung des historischen Stoffes ein Vorbild geschaffen, wie man die wachsende Fülle des geschichtlichen Materials bewältigen, durchdringen und gestalten müsse, um ein wohlgefälliges, das innere Geistes- und Gemütsleben anregendes Kunstwerk zu schaffen. Und so sehr haben die Zeitgenossen und die nächste Generation diese Vorzüge anerkannt, daß Niebuhr bei der Abfassung seiner römischen Geschichte die Absicht aus- sprach, ein Werk zu schaffen, das der römischen Kaiscrgeschichte des britischen Historikers als Vorläufer dienen sollte, und daß Schlosser in der Geschichte der bilderstürmenden Kaiser nur solche Seite» behandelte, die Gibbon garnicht oder nur flüchtig berührt hatte. Man hat mit Recht die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das Philosophische Zeitalter genannt und Voltaire als das befruchtende Haupt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/269>, abgerufen am 05.02.2025.