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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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aller der Eigenschaften, die wir als die Grundlage jeder echten, künst¬
lerisch und pragmatisch gefaßten Geschichtschreibung bezeichnet haben: der kri¬
tischen Objektivität in der Erforschung der Thatsachen, der subjektiven Ver¬
arbeitung des Stoffes in der Seele, der kunstvollen Darstellung der durch beide
Thätigkeiten gewonnenen Ergebnisse, Auch abgesehen von der mangelhaften
Geistesbildung fehlten der mittelalterlichen Menschheit alle Faktoren zu einer
Ivissenschaftlich-künstlerischen Geschichtschreibung, War etwa die Zelle des Mönchs,
ans welcher die meisten geschichtlichen Aufzeichnungen hervorgingen, eine geeignete
Stätte, die Gänge und Wechselfälle des öffentlichen Lebens zu beobachten?
War der kleinbürgerliche Gesichtskreis der Städte, von denen die Chroniken
vorzugsweise ausgingen, ein geschickter Denker der Weltbegebenheiten? War
der Dualismus von Kirche und Staat, der das ganze Mittelalter durchzieht,
eine richtige Weltanschauung für höhere Menschengeschichte? Wohl hielt man,
gestützt auf die Dnnielscheu Visionen von den vier Weltmonarchien, an der Idee
einer ununterbrochnem Fortdauer des römischen Reiches fest; aber diesem ideellen
Gebilde haftete die Vorstellung von einem GvtteSstaate, von einer Theokratie
an. Nach dieser Vorstellung vollzog sich der Verlauf des geschichtlichen Lebens
nicht nach einem natürlichen Pragmatismus vou Ursache und Wirkung, nach
einem Kansalitätsgesetze, dessen tiefen innern Zusammenhang zu ergründen die
Hauptaufgabe des Historikers sein müsse; er war das Werk eines göttlichen
Ratschlusses, eines theokratischer Absolutismus mit teleologischen Tendenzen,
In dieser Auffassung erscheint die christliche Universalgeschichte von Augustinus
und Orosins bis Bossuet, Die Idee von der Umgestaltung des römischen
Weltreiches in ein christliches Gvttesreich kann immerhin eine große genannt
werden, aber wie sie von vornherein auf einer Fiktion, auf eiuer falschen Vor¬
stellung beruhte, so raubte sie auch der Geschichtschreibung und der Geschichte
selbst ihre wertvollste Eigenschaft, die der Wahrhaftigkeit, Wohl geht mich
schon bei Herodot ein theologischer Zug durch die Geschichte, wohl werden
schon bei Polybius die Geschicke der Völker von der Tyche, dem unwiderstehlichen
Schicksale, uach einem bestimmte" Ziele gelenkt; aber die Handlungen der
Menschen und die geschichtlichen Ereignisse, welche sie darstellen, sind die Wir¬
kungen und Ergebnisse freier Willensthätigkeit. Nach der christlich-theokratischer
Anschauung ist das geschichtliche Leben nur ein von Gott und den Heiligen
in Szene gesetztes und geleitetes Drama. So kam es, daß, wie die gesamte
Kunst und Wissenschaft, so auch die Historiographie im Mittelalter gänzlich
unter dem Einflusse der Kirche und der christlichen Vorstellungen stand. Die
Geschichtsbücher und Chroniken waren wie die gottesdienstlichen Verrichtungen
und Symbole nur das Gehäuse für das göttliche Mysterium.

Bei solcher Ausfassung konnte die Geschichtschreibung keinen eignen Wert
haben; sie war berufen, wie die gesamte Kunst und Wissenschaft nur im Vorhofe
der romanischen und gothischen Kirche ihre Dienste zu leisten. Die Kriege der


aller der Eigenschaften, die wir als die Grundlage jeder echten, künst¬
lerisch und pragmatisch gefaßten Geschichtschreibung bezeichnet haben: der kri¬
tischen Objektivität in der Erforschung der Thatsachen, der subjektiven Ver¬
arbeitung des Stoffes in der Seele, der kunstvollen Darstellung der durch beide
Thätigkeiten gewonnenen Ergebnisse, Auch abgesehen von der mangelhaften
Geistesbildung fehlten der mittelalterlichen Menschheit alle Faktoren zu einer
Ivissenschaftlich-künstlerischen Geschichtschreibung, War etwa die Zelle des Mönchs,
ans welcher die meisten geschichtlichen Aufzeichnungen hervorgingen, eine geeignete
Stätte, die Gänge und Wechselfälle des öffentlichen Lebens zu beobachten?
War der kleinbürgerliche Gesichtskreis der Städte, von denen die Chroniken
vorzugsweise ausgingen, ein geschickter Denker der Weltbegebenheiten? War
der Dualismus von Kirche und Staat, der das ganze Mittelalter durchzieht,
eine richtige Weltanschauung für höhere Menschengeschichte? Wohl hielt man,
gestützt auf die Dnnielscheu Visionen von den vier Weltmonarchien, an der Idee
einer ununterbrochnem Fortdauer des römischen Reiches fest; aber diesem ideellen
Gebilde haftete die Vorstellung von einem GvtteSstaate, von einer Theokratie
an. Nach dieser Vorstellung vollzog sich der Verlauf des geschichtlichen Lebens
nicht nach einem natürlichen Pragmatismus vou Ursache und Wirkung, nach
einem Kansalitätsgesetze, dessen tiefen innern Zusammenhang zu ergründen die
Hauptaufgabe des Historikers sein müsse; er war das Werk eines göttlichen
Ratschlusses, eines theokratischer Absolutismus mit teleologischen Tendenzen,
In dieser Auffassung erscheint die christliche Universalgeschichte von Augustinus
und Orosins bis Bossuet, Die Idee von der Umgestaltung des römischen
Weltreiches in ein christliches Gvttesreich kann immerhin eine große genannt
werden, aber wie sie von vornherein auf einer Fiktion, auf eiuer falschen Vor¬
stellung beruhte, so raubte sie auch der Geschichtschreibung und der Geschichte
selbst ihre wertvollste Eigenschaft, die der Wahrhaftigkeit, Wohl geht mich
schon bei Herodot ein theologischer Zug durch die Geschichte, wohl werden
schon bei Polybius die Geschicke der Völker von der Tyche, dem unwiderstehlichen
Schicksale, uach einem bestimmte» Ziele gelenkt; aber die Handlungen der
Menschen und die geschichtlichen Ereignisse, welche sie darstellen, sind die Wir¬
kungen und Ergebnisse freier Willensthätigkeit. Nach der christlich-theokratischer
Anschauung ist das geschichtliche Leben nur ein von Gott und den Heiligen
in Szene gesetztes und geleitetes Drama. So kam es, daß, wie die gesamte
Kunst und Wissenschaft, so auch die Historiographie im Mittelalter gänzlich
unter dem Einflusse der Kirche und der christlichen Vorstellungen stand. Die
Geschichtsbücher und Chroniken waren wie die gottesdienstlichen Verrichtungen
und Symbole nur das Gehäuse für das göttliche Mysterium.

Bei solcher Ausfassung konnte die Geschichtschreibung keinen eignen Wert
haben; sie war berufen, wie die gesamte Kunst und Wissenschaft nur im Vorhofe
der romanischen und gothischen Kirche ihre Dienste zu leisten. Die Kriege der


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[0267] aller der Eigenschaften, die wir als die Grundlage jeder echten, künst¬ lerisch und pragmatisch gefaßten Geschichtschreibung bezeichnet haben: der kri¬ tischen Objektivität in der Erforschung der Thatsachen, der subjektiven Ver¬ arbeitung des Stoffes in der Seele, der kunstvollen Darstellung der durch beide Thätigkeiten gewonnenen Ergebnisse, Auch abgesehen von der mangelhaften Geistesbildung fehlten der mittelalterlichen Menschheit alle Faktoren zu einer Ivissenschaftlich-künstlerischen Geschichtschreibung, War etwa die Zelle des Mönchs, ans welcher die meisten geschichtlichen Aufzeichnungen hervorgingen, eine geeignete Stätte, die Gänge und Wechselfälle des öffentlichen Lebens zu beobachten? War der kleinbürgerliche Gesichtskreis der Städte, von denen die Chroniken vorzugsweise ausgingen, ein geschickter Denker der Weltbegebenheiten? War der Dualismus von Kirche und Staat, der das ganze Mittelalter durchzieht, eine richtige Weltanschauung für höhere Menschengeschichte? Wohl hielt man, gestützt auf die Dnnielscheu Visionen von den vier Weltmonarchien, an der Idee einer ununterbrochnem Fortdauer des römischen Reiches fest; aber diesem ideellen Gebilde haftete die Vorstellung von einem GvtteSstaate, von einer Theokratie an. Nach dieser Vorstellung vollzog sich der Verlauf des geschichtlichen Lebens nicht nach einem natürlichen Pragmatismus vou Ursache und Wirkung, nach einem Kansalitätsgesetze, dessen tiefen innern Zusammenhang zu ergründen die Hauptaufgabe des Historikers sein müsse; er war das Werk eines göttlichen Ratschlusses, eines theokratischer Absolutismus mit teleologischen Tendenzen, In dieser Auffassung erscheint die christliche Universalgeschichte von Augustinus und Orosins bis Bossuet, Die Idee von der Umgestaltung des römischen Weltreiches in ein christliches Gvttesreich kann immerhin eine große genannt werden, aber wie sie von vornherein auf einer Fiktion, auf eiuer falschen Vor¬ stellung beruhte, so raubte sie auch der Geschichtschreibung und der Geschichte selbst ihre wertvollste Eigenschaft, die der Wahrhaftigkeit, Wohl geht mich schon bei Herodot ein theologischer Zug durch die Geschichte, wohl werden schon bei Polybius die Geschicke der Völker von der Tyche, dem unwiderstehlichen Schicksale, uach einem bestimmte» Ziele gelenkt; aber die Handlungen der Menschen und die geschichtlichen Ereignisse, welche sie darstellen, sind die Wir¬ kungen und Ergebnisse freier Willensthätigkeit. Nach der christlich-theokratischer Anschauung ist das geschichtliche Leben nur ein von Gott und den Heiligen in Szene gesetztes und geleitetes Drama. So kam es, daß, wie die gesamte Kunst und Wissenschaft, so auch die Historiographie im Mittelalter gänzlich unter dem Einflusse der Kirche und der christlichen Vorstellungen stand. Die Geschichtsbücher und Chroniken waren wie die gottesdienstlichen Verrichtungen und Symbole nur das Gehäuse für das göttliche Mysterium. Bei solcher Ausfassung konnte die Geschichtschreibung keinen eignen Wert haben; sie war berufen, wie die gesamte Kunst und Wissenschaft nur im Vorhofe der romanischen und gothischen Kirche ihre Dienste zu leisten. Die Kriege der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/267>, abgerufen am 05.02.2025.