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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Mein Freund der Nihilist.

uns die Früchte des blutig errungenen Sieges; nichts blieb zurück als eine
ungeheuer vermehrte Schuldenlast und neue schwere Steuern für das Volk.
Ja noch mehr: nach Beendigung des Krieges wurde eine erschreckende Reihe der
frechsten, bis in die höchsten Kreise hinauf reichenden Betrügereien aufgedeckt,
welche mehr als je die Notwendigkeit darthaten, mit diesen Zuständen zu brechen.
Es fehlte nicht an Versuchen auf friedlichem Wege. Ein junger Mann, semo
Svloviewitsch, wagte es, dem Kaiser im Sommergarten eine Bittschrift zu über¬
reichen, welche die offne Darlegung aller der Krebsschäden und Vorschläge zu
ihrer Beseitigung enthielt. In feuriger Rede entwickelte er den Inhalt der
Schrift. Alexander war tief ergriffen, er küßte den Mutigen auf die Stirn,
das höchste Zeichen kaiserlicher Gnade. Als er zwei Tage darauf wieder nach
dem jungen Manne fragte, war dieser verschwunden -- er befand sich bereits
auf dein Wege nach Sibirien, und man hat nie wieder von ihm gehört. Unter
solchen Umstände" mußte die Partei der Propagandisten bald von der der
Anarchisten überflügelt werden. Die letztere organisirte sich unter dem Namen
Bountaris zu einem großen Geheimbunde, ausgezeichnet und mit straffster
Disziplin, und sie säumte nicht, zur That zu schreiten. Am 6. Dezember 1876
versammelten sich vor der Kirche Mtro v^ins Ac K^Wu zu Petersburg eine
Anzahl Bundesbrüder, darunter viele Studenten. Nach dem Gottesdienste trat
der Fürst Wladimir Petroff, durch seine Abstammung von den Narischkins nahe
mit dem kaiserlichen Hause verwandt, auf den freien Platz; er forderte in be¬
geisterter Anrede das Volk zum Aufstande auf und entfaltete eine rote Fahne
mit der Inschrift: Landbesitz und Freiheit. Ihm zur Seite stand die junge
schöne Tochter eines reichen jüdischen Bankiers, auch Nihilistin. Aber der
Polizeimeister, General Trepvff. hatte Wind von der Sache gehabt. Unter dem
versammelten Volke befanden sich dreihundert als Bauern verkleidete Polizisten.
Nach heftigem, aber kurzem Kampfe wurden die Verschwornen überwältigt;
Petroff büßte seinen Versuch mit dem Leben; Sarah wurde vom Gerichtshofe
zur Deportation nach Sibirien verurteilt; der Chef der dritten Abteilung aber,
General Mcsenzvff, kassirte diesen Spruch und ließ das unglückliche Mädchen
in einen der schlimmsten Kerker Petersburgs werfen, aus dem sie wahrscheinlich
nie wieder ans Tageslicht emporsteigen wird. Wollen Sie noch weiter hören?

Gewiß!

Gut. Nun versuchten die Anarchisten durch den Schrecken zu wirken. Im
Jahre 1878 hatte Trepvff einen politischen Gefangnen, Bogoluboff, wegen einer
unbedeutenden Verletzung der Ehrerbietung in Gegenwart der andern Gefangnen
aufs grausamste peitschen lassen; wenige Tage später rächte dies Vera Sassulitsch
durch zwei Revolverschüsse, welche Trepvff schwer verwundeten. So empört
war die öffentliche Meinung über Trepoffs Brutalität, daß die Geschwornen
zur Verwunderung von ganz Europa die Vera freisprachen -- eine Verurteilung
des Shstems der Negierung, wie sie eklatanter wohl nirgends vorgekommen ist.


Mein Freund der Nihilist.

uns die Früchte des blutig errungenen Sieges; nichts blieb zurück als eine
ungeheuer vermehrte Schuldenlast und neue schwere Steuern für das Volk.
Ja noch mehr: nach Beendigung des Krieges wurde eine erschreckende Reihe der
frechsten, bis in die höchsten Kreise hinauf reichenden Betrügereien aufgedeckt,
welche mehr als je die Notwendigkeit darthaten, mit diesen Zuständen zu brechen.
Es fehlte nicht an Versuchen auf friedlichem Wege. Ein junger Mann, semo
Svloviewitsch, wagte es, dem Kaiser im Sommergarten eine Bittschrift zu über¬
reichen, welche die offne Darlegung aller der Krebsschäden und Vorschläge zu
ihrer Beseitigung enthielt. In feuriger Rede entwickelte er den Inhalt der
Schrift. Alexander war tief ergriffen, er küßte den Mutigen auf die Stirn,
das höchste Zeichen kaiserlicher Gnade. Als er zwei Tage darauf wieder nach
dem jungen Manne fragte, war dieser verschwunden — er befand sich bereits
auf dein Wege nach Sibirien, und man hat nie wieder von ihm gehört. Unter
solchen Umstände» mußte die Partei der Propagandisten bald von der der
Anarchisten überflügelt werden. Die letztere organisirte sich unter dem Namen
Bountaris zu einem großen Geheimbunde, ausgezeichnet und mit straffster
Disziplin, und sie säumte nicht, zur That zu schreiten. Am 6. Dezember 1876
versammelten sich vor der Kirche Mtro v^ins Ac K^Wu zu Petersburg eine
Anzahl Bundesbrüder, darunter viele Studenten. Nach dem Gottesdienste trat
der Fürst Wladimir Petroff, durch seine Abstammung von den Narischkins nahe
mit dem kaiserlichen Hause verwandt, auf den freien Platz; er forderte in be¬
geisterter Anrede das Volk zum Aufstande auf und entfaltete eine rote Fahne
mit der Inschrift: Landbesitz und Freiheit. Ihm zur Seite stand die junge
schöne Tochter eines reichen jüdischen Bankiers, auch Nihilistin. Aber der
Polizeimeister, General Trepvff. hatte Wind von der Sache gehabt. Unter dem
versammelten Volke befanden sich dreihundert als Bauern verkleidete Polizisten.
Nach heftigem, aber kurzem Kampfe wurden die Verschwornen überwältigt;
Petroff büßte seinen Versuch mit dem Leben; Sarah wurde vom Gerichtshofe
zur Deportation nach Sibirien verurteilt; der Chef der dritten Abteilung aber,
General Mcsenzvff, kassirte diesen Spruch und ließ das unglückliche Mädchen
in einen der schlimmsten Kerker Petersburgs werfen, aus dem sie wahrscheinlich
nie wieder ans Tageslicht emporsteigen wird. Wollen Sie noch weiter hören?

Gewiß!

Gut. Nun versuchten die Anarchisten durch den Schrecken zu wirken. Im
Jahre 1878 hatte Trepvff einen politischen Gefangnen, Bogoluboff, wegen einer
unbedeutenden Verletzung der Ehrerbietung in Gegenwart der andern Gefangnen
aufs grausamste peitschen lassen; wenige Tage später rächte dies Vera Sassulitsch
durch zwei Revolverschüsse, welche Trepvff schwer verwundeten. So empört
war die öffentliche Meinung über Trepoffs Brutalität, daß die Geschwornen
zur Verwunderung von ganz Europa die Vera freisprachen — eine Verurteilung
des Shstems der Negierung, wie sie eklatanter wohl nirgends vorgekommen ist.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/608>, abgerufen am 15.01.2025.