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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Mein Freund der Nihilist.

Gewiß. Und welcher Gruppe gehören Sie selbst an, Herr Doktor?

Ich bin Propagandist. Freilich verhehle ich mir nicht, daß vielleicht noch
Jahrhunderte vergehen werden, bevor unsre Idee die Welt erobert haben wird.
Aber auf der andern Seite ist es völlig klar, daß die Menschen, welche am
großen Dies irae- sich abends als Bestien schlafen gelegt haben, nicht am fol¬
genden Morgen als Engel erwachen werden, um das Reich des Friedens und
der Tugend aufzurichten. Ich habe Geduld; ich lasse mich nicht entmutigen.
Ich wirke friedlich für meine Ideale, so viel in meinen Kräften steht; das übrige
stelle ich getrost der Zukunft anheim. Und die Zukunft gehört uns! --

Selten hatte mich etwas so überrascht, als dies Geständnis des Dr. A.
Ein so kluger und klardenkender Mensch, und solchen Wcihngebilden nachjagend!
Indes ich wünschte mehr zu erfahren. Daher fragte ich nach einer Pause:

So ist es also nicht wahr, was jetzt so oft in den Zeitungen ausposaunt
wird, daß der Nihilismus in den letzten Zügen liege?

Glaubt man das in Deutschland? Nun, die Augen werden Ihnen wunderbar
aufgehen! Ich weiß wenig vou dem Treiben der anarchistischen Partei, und
wenn ich etwas davon wüßte, würde ichs Ihnen natürlich nicht verraten. Aber
denken Sie an mich! Wir werden bald wieder durch ungeahnte Ereignisse in
Rußland aufgeschreckt werden. Denn eins ist sicher: resolut sind die Nihilisten.

Ja das weiß Gott -- die Attentate beweisen das genugsam.

Leider! und obendrein waren diese Attentate stets politische Fehler, vor
allem dasjenige, dessen Opfer Alexander II. wurde.

Kaiser Alexander, fuhr A. nach einer Weile fort, war, wie ich Ihnen schon
sagte, durchaus kein Feind des Fortschrittes. Aber schon nach dem ersten Atten¬
tate auf ihn, welches Karcckasoff 1863 unternahm, brach eine entschiedne Reaktion
herein. Es wurde eine eigne Behörde zur Untersuchung und Abnrtcilnng der
politischen Vergehen eingesetzt, die sogenannte dritte Abteilung der kaiserlichen
Kanzlei, und mit ganz exorbitanten Befugnissen ausgestattet. Sie durfte die
Todesstrafe verhängen, welche schon seit Katharina II. in Nußland gesetzlich
abgeschafft ist, und bald trieb sie es schlimmer als weiland in Venedig der Rat
der Zehn. Auf deu geringsten Verdacht, anf die unbegründetste Denunziation
hin wurden Leute aus allen Stünden eingekerkert, grausam behandelt, und oft
ohne nur verhört zu sein, nach Sibirien geschickt. Lesen Sie die Schilderung
der Leiden eines Deportirten in dem sonst ziemlich phantastischen Romane
Oallect Iiaclc von Hugh Conway -- sie ist bis ins kleinste Detail wahrheitsgetreu.
Die große" Ereignisse der Jahre 1866 und 1870 haben den Blick Deutschlands
von den russischen Zuständen abgelenkt. Aber diese entwickelten sich rasch. Natur¬
gemäß erzeugte der furchtbare Druck einen heftigen Gegendruck. Schon 1875
war die'Sache soweit gediehen, daß der Kaiser zu dem verzweifelten Mittel
eines Krieges mit der Türkei greisen mußte, um der Bewegung im Innern Herr
zu werden. Das Mittel schlug vollständig fehl. Der Berliner Kongreß entriß


Mein Freund der Nihilist.

Gewiß. Und welcher Gruppe gehören Sie selbst an, Herr Doktor?

Ich bin Propagandist. Freilich verhehle ich mir nicht, daß vielleicht noch
Jahrhunderte vergehen werden, bevor unsre Idee die Welt erobert haben wird.
Aber auf der andern Seite ist es völlig klar, daß die Menschen, welche am
großen Dies irae- sich abends als Bestien schlafen gelegt haben, nicht am fol¬
genden Morgen als Engel erwachen werden, um das Reich des Friedens und
der Tugend aufzurichten. Ich habe Geduld; ich lasse mich nicht entmutigen.
Ich wirke friedlich für meine Ideale, so viel in meinen Kräften steht; das übrige
stelle ich getrost der Zukunft anheim. Und die Zukunft gehört uns! —

Selten hatte mich etwas so überrascht, als dies Geständnis des Dr. A.
Ein so kluger und klardenkender Mensch, und solchen Wcihngebilden nachjagend!
Indes ich wünschte mehr zu erfahren. Daher fragte ich nach einer Pause:

So ist es also nicht wahr, was jetzt so oft in den Zeitungen ausposaunt
wird, daß der Nihilismus in den letzten Zügen liege?

Glaubt man das in Deutschland? Nun, die Augen werden Ihnen wunderbar
aufgehen! Ich weiß wenig vou dem Treiben der anarchistischen Partei, und
wenn ich etwas davon wüßte, würde ichs Ihnen natürlich nicht verraten. Aber
denken Sie an mich! Wir werden bald wieder durch ungeahnte Ereignisse in
Rußland aufgeschreckt werden. Denn eins ist sicher: resolut sind die Nihilisten.

Ja das weiß Gott — die Attentate beweisen das genugsam.

Leider! und obendrein waren diese Attentate stets politische Fehler, vor
allem dasjenige, dessen Opfer Alexander II. wurde.

Kaiser Alexander, fuhr A. nach einer Weile fort, war, wie ich Ihnen schon
sagte, durchaus kein Feind des Fortschrittes. Aber schon nach dem ersten Atten¬
tate auf ihn, welches Karcckasoff 1863 unternahm, brach eine entschiedne Reaktion
herein. Es wurde eine eigne Behörde zur Untersuchung und Abnrtcilnng der
politischen Vergehen eingesetzt, die sogenannte dritte Abteilung der kaiserlichen
Kanzlei, und mit ganz exorbitanten Befugnissen ausgestattet. Sie durfte die
Todesstrafe verhängen, welche schon seit Katharina II. in Nußland gesetzlich
abgeschafft ist, und bald trieb sie es schlimmer als weiland in Venedig der Rat
der Zehn. Auf deu geringsten Verdacht, anf die unbegründetste Denunziation
hin wurden Leute aus allen Stünden eingekerkert, grausam behandelt, und oft
ohne nur verhört zu sein, nach Sibirien geschickt. Lesen Sie die Schilderung
der Leiden eines Deportirten in dem sonst ziemlich phantastischen Romane
Oallect Iiaclc von Hugh Conway — sie ist bis ins kleinste Detail wahrheitsgetreu.
Die große» Ereignisse der Jahre 1866 und 1870 haben den Blick Deutschlands
von den russischen Zuständen abgelenkt. Aber diese entwickelten sich rasch. Natur¬
gemäß erzeugte der furchtbare Druck einen heftigen Gegendruck. Schon 1875
war die'Sache soweit gediehen, daß der Kaiser zu dem verzweifelten Mittel
eines Krieges mit der Türkei greisen mußte, um der Bewegung im Innern Herr
zu werden. Das Mittel schlug vollständig fehl. Der Berliner Kongreß entriß


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[0607] Mein Freund der Nihilist. Gewiß. Und welcher Gruppe gehören Sie selbst an, Herr Doktor? Ich bin Propagandist. Freilich verhehle ich mir nicht, daß vielleicht noch Jahrhunderte vergehen werden, bevor unsre Idee die Welt erobert haben wird. Aber auf der andern Seite ist es völlig klar, daß die Menschen, welche am großen Dies irae- sich abends als Bestien schlafen gelegt haben, nicht am fol¬ genden Morgen als Engel erwachen werden, um das Reich des Friedens und der Tugend aufzurichten. Ich habe Geduld; ich lasse mich nicht entmutigen. Ich wirke friedlich für meine Ideale, so viel in meinen Kräften steht; das übrige stelle ich getrost der Zukunft anheim. Und die Zukunft gehört uns! — Selten hatte mich etwas so überrascht, als dies Geständnis des Dr. A. Ein so kluger und klardenkender Mensch, und solchen Wcihngebilden nachjagend! Indes ich wünschte mehr zu erfahren. Daher fragte ich nach einer Pause: So ist es also nicht wahr, was jetzt so oft in den Zeitungen ausposaunt wird, daß der Nihilismus in den letzten Zügen liege? Glaubt man das in Deutschland? Nun, die Augen werden Ihnen wunderbar aufgehen! Ich weiß wenig vou dem Treiben der anarchistischen Partei, und wenn ich etwas davon wüßte, würde ichs Ihnen natürlich nicht verraten. Aber denken Sie an mich! Wir werden bald wieder durch ungeahnte Ereignisse in Rußland aufgeschreckt werden. Denn eins ist sicher: resolut sind die Nihilisten. Ja das weiß Gott — die Attentate beweisen das genugsam. Leider! und obendrein waren diese Attentate stets politische Fehler, vor allem dasjenige, dessen Opfer Alexander II. wurde. Kaiser Alexander, fuhr A. nach einer Weile fort, war, wie ich Ihnen schon sagte, durchaus kein Feind des Fortschrittes. Aber schon nach dem ersten Atten¬ tate auf ihn, welches Karcckasoff 1863 unternahm, brach eine entschiedne Reaktion herein. Es wurde eine eigne Behörde zur Untersuchung und Abnrtcilnng der politischen Vergehen eingesetzt, die sogenannte dritte Abteilung der kaiserlichen Kanzlei, und mit ganz exorbitanten Befugnissen ausgestattet. Sie durfte die Todesstrafe verhängen, welche schon seit Katharina II. in Nußland gesetzlich abgeschafft ist, und bald trieb sie es schlimmer als weiland in Venedig der Rat der Zehn. Auf deu geringsten Verdacht, anf die unbegründetste Denunziation hin wurden Leute aus allen Stünden eingekerkert, grausam behandelt, und oft ohne nur verhört zu sein, nach Sibirien geschickt. Lesen Sie die Schilderung der Leiden eines Deportirten in dem sonst ziemlich phantastischen Romane Oallect Iiaclc von Hugh Conway — sie ist bis ins kleinste Detail wahrheitsgetreu. Die große» Ereignisse der Jahre 1866 und 1870 haben den Blick Deutschlands von den russischen Zuständen abgelenkt. Aber diese entwickelten sich rasch. Natur¬ gemäß erzeugte der furchtbare Druck einen heftigen Gegendruck. Schon 1875 war die'Sache soweit gediehen, daß der Kaiser zu dem verzweifelten Mittel eines Krieges mit der Türkei greisen mußte, um der Bewegung im Innern Herr zu werden. Das Mittel schlug vollständig fehl. Der Berliner Kongreß entriß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/607>, abgerufen am 28.01.2025.