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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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sich? Ist es denn das erstemal, daß die Welt dies Schauspiel sieht? Wer
kämpfte vor und in der ersten französischen Revolution für die Befreiung des
dritten Standes aus den Fesseln der feudalen Zustände? Es waren die er¬
leuchtetsten Geister Frankreichs, Voltaire, Rousseau, Diderot; es waren die
edelsten Mitglieder der Aristokratie, ein Mirabeau, Lafayette n, s, w. Ganz so
in Nußland -- nur sind da die Zustände viel abscheulicher als vor hundert
Jahren in Frankreich, Ja, ich behaupte mit voller Überzeugung: in Nußland
ist jeder Mann, der el" Herz und ein Gewissen in der Brust trägt, im Grunde
Nihilist, Und wir alle sind bereit für das Wohl unsrer armen Mitmenschen
unser Vermögen, unsre Freiheit, unser Leben in die Schanze zu schlagen. Viele
haben es bereits gethan, Glauben Sie mir, der Kaiser selbst würde der erste
unter den Nihilisten sein, wenn er konnte und dürfte. Begreifen Sie nnn, was
der Nihilismus ist und was ihm seine heilige Berechtigung giebt?

Dr, A. hatte dies mit leidenschaftlicher Bewegung gesprochen. Ich wußte
nichts zu erwiedern; ich schwieg erstaunt und ergriffen,

(Fortsetzung folgt.)




Notizen.

Würtemberg am Jahresschlusse. Wenn wir Würtenberger ans das
Jahr 1885 zurückblicken, so kann es im ganzen mit Befriedigung geschehen. Die
Reichstagswahlen vom 28, Oktober 1384 haben unsre innern Verhältnisse in ent¬
scheidender Weise beeinflußt, die auch auf das abgelaufene Jahr fortgewirkt hat.
Der Höhepunkt, den die radikale Flut im Jahre 1881 erreicht hatte, ist nicht lange
von Bestand gewesen; schon bei den Landtagswahlen im Dezember 1832 haben
die nach rechts stehenden Parteien eine Zweidrittelmehrheit erlangt, und in den
Reichstag entsandten wir acht Männer der Mittelpartei, während den Demokraten
nur fünf, den Ultramontanen aber vier Mandate zufielen. Mit dieser Thatsache,
die zunächst in die Angen fiel, ist indessen die Tragweite der Wahl nicht erschöpft.
Die dem Neichsgedcmlen freundliche Strömung hat bei uus seit einem Jahre nicht
nur nicht abgenommen, sondern sich uoch verstärkt; würde heute der Reichstag auf¬
gelöst, so wurden die Wahlkreise Heilbronn und Mergentheim, die jetzt noch von
den Herren Härte und Karl Mäher vertreten sind, mit höchster Wahrscheinlichkeit
von uns gewonnen werden, und anch Herr Payer sitzt kaum fester im Sattel als
die beiden genannten.

Vor allem aber hat die Wahl dazu geführt, die schon lange in der Volkspartei
schlummernden Gegensätze vor aller Welt bloß zu legen. Von 1371 bis 1376
hatte die Demokratie so gut wie garnichts mehr bedeutet; die Aufregung über das
Neichscisenbahnprojelt half ihr wieder auf, sie verdrängte mehrere nationale
Reichsboten zunächst zu Gunsten etwas stark partikularistisch angehauchter Frei-
konservativen, und 1881 erntete sie die Früchte dieser vorsorglicher Taktik, Aber
die Herrlichkeit dauerte nicht lange, in der Volkspartei selbst machte sich allmählich


sich? Ist es denn das erstemal, daß die Welt dies Schauspiel sieht? Wer
kämpfte vor und in der ersten französischen Revolution für die Befreiung des
dritten Standes aus den Fesseln der feudalen Zustände? Es waren die er¬
leuchtetsten Geister Frankreichs, Voltaire, Rousseau, Diderot; es waren die
edelsten Mitglieder der Aristokratie, ein Mirabeau, Lafayette n, s, w. Ganz so
in Nußland — nur sind da die Zustände viel abscheulicher als vor hundert
Jahren in Frankreich, Ja, ich behaupte mit voller Überzeugung: in Nußland
ist jeder Mann, der el» Herz und ein Gewissen in der Brust trägt, im Grunde
Nihilist, Und wir alle sind bereit für das Wohl unsrer armen Mitmenschen
unser Vermögen, unsre Freiheit, unser Leben in die Schanze zu schlagen. Viele
haben es bereits gethan, Glauben Sie mir, der Kaiser selbst würde der erste
unter den Nihilisten sein, wenn er konnte und dürfte. Begreifen Sie nnn, was
der Nihilismus ist und was ihm seine heilige Berechtigung giebt?

Dr, A. hatte dies mit leidenschaftlicher Bewegung gesprochen. Ich wußte
nichts zu erwiedern; ich schwieg erstaunt und ergriffen,

(Fortsetzung folgt.)




Notizen.

Würtemberg am Jahresschlusse. Wenn wir Würtenberger ans das
Jahr 1885 zurückblicken, so kann es im ganzen mit Befriedigung geschehen. Die
Reichstagswahlen vom 28, Oktober 1384 haben unsre innern Verhältnisse in ent¬
scheidender Weise beeinflußt, die auch auf das abgelaufene Jahr fortgewirkt hat.
Der Höhepunkt, den die radikale Flut im Jahre 1881 erreicht hatte, ist nicht lange
von Bestand gewesen; schon bei den Landtagswahlen im Dezember 1832 haben
die nach rechts stehenden Parteien eine Zweidrittelmehrheit erlangt, und in den
Reichstag entsandten wir acht Männer der Mittelpartei, während den Demokraten
nur fünf, den Ultramontanen aber vier Mandate zufielen. Mit dieser Thatsache,
die zunächst in die Angen fiel, ist indessen die Tragweite der Wahl nicht erschöpft.
Die dem Neichsgedcmlen freundliche Strömung hat bei uus seit einem Jahre nicht
nur nicht abgenommen, sondern sich uoch verstärkt; würde heute der Reichstag auf¬
gelöst, so wurden die Wahlkreise Heilbronn und Mergentheim, die jetzt noch von
den Herren Härte und Karl Mäher vertreten sind, mit höchster Wahrscheinlichkeit
von uns gewonnen werden, und anch Herr Payer sitzt kaum fester im Sattel als
die beiden genannten.

Vor allem aber hat die Wahl dazu geführt, die schon lange in der Volkspartei
schlummernden Gegensätze vor aller Welt bloß zu legen. Von 1371 bis 1376
hatte die Demokratie so gut wie garnichts mehr bedeutet; die Aufregung über das
Neichscisenbahnprojelt half ihr wieder auf, sie verdrängte mehrere nationale
Reichsboten zunächst zu Gunsten etwas stark partikularistisch angehauchter Frei-
konservativen, und 1881 erntete sie die Früchte dieser vorsorglicher Taktik, Aber
die Herrlichkeit dauerte nicht lange, in der Volkspartei selbst machte sich allmählich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/558>, abgerufen am 15.01.2025.