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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Mein Freund der Nihilist.

bezahlt hatte; außerdem aber alle andern Steuern, welche die Regierung auf¬
schrieb. Und das verstand die Regierung, namentlich seit dem letzten Türken¬
kriege. Obendrein verdoppelt sich in Nußland jede Steuer durch die Unredlichkeit
der Beamten. Bald wurde der Bauer durch Abgaben völlig erdrückt. Um die
Eintreibung zu sichern, erhielt der Jspravnik die Befugnis, den Bauer peitschen
zu lassen, wenn dieser nicht zahlen konnte oder wollte. Wohin das führen
mußte, liegt auf der Hand. Im Innern von Rußland ist es für den Bauer
sehr schwer, dasjenige, was er von dem Ertrage seines Ackers übrig behält, zu
Gelde zu machen. Erfuhr nun der gewissenlose Gctreidehändler, meist ein Jude,
daß ein Bauer einen Vorrat von Korn liegen hatte, so ging er zum Jspravnik;
dieser forderte sofort von dem Bauer, gerechter oder ungerechter Weise, einen
Stenerbetrag ein und drohte mit Hieben. Als rettender Engel erschien dann
im rechten Augenblicke -- der Jude, kaufte das Getreide um einen Spottpreis
und teilte den Profit mit dem Jspravnik. Bedenkt man nun dazu, daß der
russische Bauer, gutmütig wie ein Kind, gewohnt ist, in den Tag hineinzuleben,
in guten Jahren sorglos die Ernte aufzuzehren, ohne daran zu denken, daß auch
schlechte kommen können, und daß ihm dann nichts übrig bleibt, als sich in die
Hände der Wucherer zu geben, so begreift man, daß sein Zustand nicht nur
höchst elend, sondern auch durchaus hoffnungslos ist. Und während der Arme
mit den Seinen fast vor Hunger umkommt, muß er sehen, wie der reiche Guts¬
herr ganze Eisenbahnzüge voll Getreide nach Odessa sendet, um das westliche
Europa zu versorgen. Sucht er es aber zu verhindern, wie es z. B. im Gou¬
vernement Tiraspol während einer Hungertyphusepidemie geschah, so wird Militär
requirirt und der Bauer wird niedergeschossen. Ja, Herr Baron, das sind Zu¬
stände, von denen Sie in Deutschland nicht die leiseste Ahnung haben. Darf das
fortdauern?

So ist also, begann ich nach einer Pause wieder, bei Ihnen das platte Land
der Sitz des Nihilismus? In Deutschland versichert man stets, er existire nur
in den Städten und habe bei der ländlichen Bevölkerung gar keinen Anhalt.

Und mit vollem Rechte versichert man das.

Das ist ja aber ein vollständiger Widerspruch.

Durchaus uicht. Die Ursache des Nihilismus ist die unerträgliche Lage
der Landbevölkerung; die Träger und Vertreter desselben aber leben in den
Städten. Es sind nicht die Bauern, es sind diejenigen Mitglieder der gebildeten
Klassen, deren Gefühl sich gegen solche Zustände empört, und die es sich zur
Aufgabe gemacht haben, sie zu beseitigen.

Wunderbar!

Garnicht wunderbar. Würden Sie dergleichen dulden, wenn es von Ihnen
abhinge? Nein. Sie würden in der vordersten Reihe derjenigen stehen, welche
sagen: das ist der Menschheit unwürdig, auch jenen gebührt ein Anteil an
irdischem Glücke und einer menschenwürdigen Existenz. Weshalb wundern Sie


Mein Freund der Nihilist.

bezahlt hatte; außerdem aber alle andern Steuern, welche die Regierung auf¬
schrieb. Und das verstand die Regierung, namentlich seit dem letzten Türken¬
kriege. Obendrein verdoppelt sich in Nußland jede Steuer durch die Unredlichkeit
der Beamten. Bald wurde der Bauer durch Abgaben völlig erdrückt. Um die
Eintreibung zu sichern, erhielt der Jspravnik die Befugnis, den Bauer peitschen
zu lassen, wenn dieser nicht zahlen konnte oder wollte. Wohin das führen
mußte, liegt auf der Hand. Im Innern von Rußland ist es für den Bauer
sehr schwer, dasjenige, was er von dem Ertrage seines Ackers übrig behält, zu
Gelde zu machen. Erfuhr nun der gewissenlose Gctreidehändler, meist ein Jude,
daß ein Bauer einen Vorrat von Korn liegen hatte, so ging er zum Jspravnik;
dieser forderte sofort von dem Bauer, gerechter oder ungerechter Weise, einen
Stenerbetrag ein und drohte mit Hieben. Als rettender Engel erschien dann
im rechten Augenblicke — der Jude, kaufte das Getreide um einen Spottpreis
und teilte den Profit mit dem Jspravnik. Bedenkt man nun dazu, daß der
russische Bauer, gutmütig wie ein Kind, gewohnt ist, in den Tag hineinzuleben,
in guten Jahren sorglos die Ernte aufzuzehren, ohne daran zu denken, daß auch
schlechte kommen können, und daß ihm dann nichts übrig bleibt, als sich in die
Hände der Wucherer zu geben, so begreift man, daß sein Zustand nicht nur
höchst elend, sondern auch durchaus hoffnungslos ist. Und während der Arme
mit den Seinen fast vor Hunger umkommt, muß er sehen, wie der reiche Guts¬
herr ganze Eisenbahnzüge voll Getreide nach Odessa sendet, um das westliche
Europa zu versorgen. Sucht er es aber zu verhindern, wie es z. B. im Gou¬
vernement Tiraspol während einer Hungertyphusepidemie geschah, so wird Militär
requirirt und der Bauer wird niedergeschossen. Ja, Herr Baron, das sind Zu¬
stände, von denen Sie in Deutschland nicht die leiseste Ahnung haben. Darf das
fortdauern?

So ist also, begann ich nach einer Pause wieder, bei Ihnen das platte Land
der Sitz des Nihilismus? In Deutschland versichert man stets, er existire nur
in den Städten und habe bei der ländlichen Bevölkerung gar keinen Anhalt.

Und mit vollem Rechte versichert man das.

Das ist ja aber ein vollständiger Widerspruch.

Durchaus uicht. Die Ursache des Nihilismus ist die unerträgliche Lage
der Landbevölkerung; die Träger und Vertreter desselben aber leben in den
Städten. Es sind nicht die Bauern, es sind diejenigen Mitglieder der gebildeten
Klassen, deren Gefühl sich gegen solche Zustände empört, und die es sich zur
Aufgabe gemacht haben, sie zu beseitigen.

Wunderbar!

Garnicht wunderbar. Würden Sie dergleichen dulden, wenn es von Ihnen
abhinge? Nein. Sie würden in der vordersten Reihe derjenigen stehen, welche
sagen: das ist der Menschheit unwürdig, auch jenen gebührt ein Anteil an
irdischem Glücke und einer menschenwürdigen Existenz. Weshalb wundern Sie


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[0557] Mein Freund der Nihilist. bezahlt hatte; außerdem aber alle andern Steuern, welche die Regierung auf¬ schrieb. Und das verstand die Regierung, namentlich seit dem letzten Türken¬ kriege. Obendrein verdoppelt sich in Nußland jede Steuer durch die Unredlichkeit der Beamten. Bald wurde der Bauer durch Abgaben völlig erdrückt. Um die Eintreibung zu sichern, erhielt der Jspravnik die Befugnis, den Bauer peitschen zu lassen, wenn dieser nicht zahlen konnte oder wollte. Wohin das führen mußte, liegt auf der Hand. Im Innern von Rußland ist es für den Bauer sehr schwer, dasjenige, was er von dem Ertrage seines Ackers übrig behält, zu Gelde zu machen. Erfuhr nun der gewissenlose Gctreidehändler, meist ein Jude, daß ein Bauer einen Vorrat von Korn liegen hatte, so ging er zum Jspravnik; dieser forderte sofort von dem Bauer, gerechter oder ungerechter Weise, einen Stenerbetrag ein und drohte mit Hieben. Als rettender Engel erschien dann im rechten Augenblicke — der Jude, kaufte das Getreide um einen Spottpreis und teilte den Profit mit dem Jspravnik. Bedenkt man nun dazu, daß der russische Bauer, gutmütig wie ein Kind, gewohnt ist, in den Tag hineinzuleben, in guten Jahren sorglos die Ernte aufzuzehren, ohne daran zu denken, daß auch schlechte kommen können, und daß ihm dann nichts übrig bleibt, als sich in die Hände der Wucherer zu geben, so begreift man, daß sein Zustand nicht nur höchst elend, sondern auch durchaus hoffnungslos ist. Und während der Arme mit den Seinen fast vor Hunger umkommt, muß er sehen, wie der reiche Guts¬ herr ganze Eisenbahnzüge voll Getreide nach Odessa sendet, um das westliche Europa zu versorgen. Sucht er es aber zu verhindern, wie es z. B. im Gou¬ vernement Tiraspol während einer Hungertyphusepidemie geschah, so wird Militär requirirt und der Bauer wird niedergeschossen. Ja, Herr Baron, das sind Zu¬ stände, von denen Sie in Deutschland nicht die leiseste Ahnung haben. Darf das fortdauern? So ist also, begann ich nach einer Pause wieder, bei Ihnen das platte Land der Sitz des Nihilismus? In Deutschland versichert man stets, er existire nur in den Städten und habe bei der ländlichen Bevölkerung gar keinen Anhalt. Und mit vollem Rechte versichert man das. Das ist ja aber ein vollständiger Widerspruch. Durchaus uicht. Die Ursache des Nihilismus ist die unerträgliche Lage der Landbevölkerung; die Träger und Vertreter desselben aber leben in den Städten. Es sind nicht die Bauern, es sind diejenigen Mitglieder der gebildeten Klassen, deren Gefühl sich gegen solche Zustände empört, und die es sich zur Aufgabe gemacht haben, sie zu beseitigen. Wunderbar! Garnicht wunderbar. Würden Sie dergleichen dulden, wenn es von Ihnen abhinge? Nein. Sie würden in der vordersten Reihe derjenigen stehen, welche sagen: das ist der Menschheit unwürdig, auch jenen gebührt ein Anteil an irdischem Glücke und einer menschenwürdigen Existenz. Weshalb wundern Sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/557>, abgerufen am 15.01.2025.