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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Nur Schriftsteller. Ich schreibe für die Feuilletons namhafter französischer
und russischer Zeitungen.

Sie denken nicht daran, in Ihr Vaterland zurückzukehren?

Durch mein Buch I>Sö viotimss "In habe ich die Brücke hinter mir
abgebrochen. Hier bin ich in Sicherheit; von hier aus kann ich weit mehr für
meine Ideen und mein Vaterland wirken, als ans irgendeine Weise daheim.
Dazu kommt, daß ich leidenschaftlich die Natur liebe, und sagen Sie selbst, wo
kann es schöner sein als hier an den Ufern des blauen Lemar! Auch die Sitten
der Schweiz gefallen mir, namentlich die große persönliche Freiheit. Vor allem
aber möchte ich meine Frau, eine sehr gebildete Genferin, nicht in ein Land
führen, welches ich als das Land der Barbarei bezeichnen muß, obgleich es meine
Heimat ist, und obgleich ich es glühend liebe.

Ich schwieg. Indessen brachte Frau A. vorzüglichen russischen Thee; der
Doktor warf einige Holzstücke auf die Kohlen des Kamins und fuhr fort:

So! nun lassen Sie uns völlig vertraulich reden. Wir suchen beide warm
und aufrichtig dasselbe Ziel: das Wohl der Menschheit. Sind unsre Wege zu
diesem Ziele auch vielleicht ganz entgegengesetzt, so darf uns das nicht trennen.
Ich glaube nicht, daß wir uns über die Wege vereinigen werden; aber wir werden
uns darüber verständige", was ein jeder von uns will, und das ist auch etwas wert.

So fasse auch ich die Sache. Mau kaun Indien durch den Suezkanal
erreichen und durch den Panamakanal, d. h. wenn er erst fertig sein wird. Sie
sind also Nihilist, Herr Doktor?

Ja, und mit voller Überzeugung.

Was ist denn Nihilist?

Sehen Sie, Herr Bnron, wie sehr ich recht darin hatte, daß man in Deutsch¬
land nichts von uns weiß? Sie bekämpfen doch den Nihilismus?

Ja, ganz entschieden.

Und Sie wissen nicht einmal, was Nihilismus ist. Für einen ehemaligen
Soldaten, verzeihen Sie mir, erscheint mir das mindestens sehr wunderbar.
Wollen Sie einen Feind schlagen, so ist doch die erste Notwendigkeit, daß Sie
ihn kennen.

Ganz recht, Herr Doktor. Aber reicht es nicht aus, daß ich weiß, die
Nihilisten sind in Rußland etwa dasselbe wie in Deutschland die Sozialdemokraten?

A. lachte. Ich dachte es wohl; aber leider muß ich Ihnen sagen, daß das
vollständig unwahr ist.

Unwahr?

Ja. fast in allen Punkten. Haben Sie je Gelegenheit gehabt, die deutsche
Sozialdemokratie kennen zu lernen?

Jawohl. Ich stand in Dresden an der Spitze des Wahlkomitees, welches
den Kandidaten der drei Ordnungsparteien gegen den der Sozialdemokratie zu
verteidigen hatte.


Grenzboten IV. 1885. 69

Nur Schriftsteller. Ich schreibe für die Feuilletons namhafter französischer
und russischer Zeitungen.

Sie denken nicht daran, in Ihr Vaterland zurückzukehren?

Durch mein Buch I>Sö viotimss «In habe ich die Brücke hinter mir
abgebrochen. Hier bin ich in Sicherheit; von hier aus kann ich weit mehr für
meine Ideen und mein Vaterland wirken, als ans irgendeine Weise daheim.
Dazu kommt, daß ich leidenschaftlich die Natur liebe, und sagen Sie selbst, wo
kann es schöner sein als hier an den Ufern des blauen Lemar! Auch die Sitten
der Schweiz gefallen mir, namentlich die große persönliche Freiheit. Vor allem
aber möchte ich meine Frau, eine sehr gebildete Genferin, nicht in ein Land
führen, welches ich als das Land der Barbarei bezeichnen muß, obgleich es meine
Heimat ist, und obgleich ich es glühend liebe.

Ich schwieg. Indessen brachte Frau A. vorzüglichen russischen Thee; der
Doktor warf einige Holzstücke auf die Kohlen des Kamins und fuhr fort:

So! nun lassen Sie uns völlig vertraulich reden. Wir suchen beide warm
und aufrichtig dasselbe Ziel: das Wohl der Menschheit. Sind unsre Wege zu
diesem Ziele auch vielleicht ganz entgegengesetzt, so darf uns das nicht trennen.
Ich glaube nicht, daß wir uns über die Wege vereinigen werden; aber wir werden
uns darüber verständige», was ein jeder von uns will, und das ist auch etwas wert.

So fasse auch ich die Sache. Mau kaun Indien durch den Suezkanal
erreichen und durch den Panamakanal, d. h. wenn er erst fertig sein wird. Sie
sind also Nihilist, Herr Doktor?

Ja, und mit voller Überzeugung.

Was ist denn Nihilist?

Sehen Sie, Herr Bnron, wie sehr ich recht darin hatte, daß man in Deutsch¬
land nichts von uns weiß? Sie bekämpfen doch den Nihilismus?

Ja, ganz entschieden.

Und Sie wissen nicht einmal, was Nihilismus ist. Für einen ehemaligen
Soldaten, verzeihen Sie mir, erscheint mir das mindestens sehr wunderbar.
Wollen Sie einen Feind schlagen, so ist doch die erste Notwendigkeit, daß Sie
ihn kennen.

Ganz recht, Herr Doktor. Aber reicht es nicht aus, daß ich weiß, die
Nihilisten sind in Rußland etwa dasselbe wie in Deutschland die Sozialdemokraten?

A. lachte. Ich dachte es wohl; aber leider muß ich Ihnen sagen, daß das
vollständig unwahr ist.

Unwahr?

Ja. fast in allen Punkten. Haben Sie je Gelegenheit gehabt, die deutsche
Sozialdemokratie kennen zu lernen?

Jawohl. Ich stand in Dresden an der Spitze des Wahlkomitees, welches
den Kandidaten der drei Ordnungsparteien gegen den der Sozialdemokratie zu
verteidigen hatte.


Grenzboten IV. 1885. 69
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[0553] Nur Schriftsteller. Ich schreibe für die Feuilletons namhafter französischer und russischer Zeitungen. Sie denken nicht daran, in Ihr Vaterland zurückzukehren? Durch mein Buch I>Sö viotimss «In habe ich die Brücke hinter mir abgebrochen. Hier bin ich in Sicherheit; von hier aus kann ich weit mehr für meine Ideen und mein Vaterland wirken, als ans irgendeine Weise daheim. Dazu kommt, daß ich leidenschaftlich die Natur liebe, und sagen Sie selbst, wo kann es schöner sein als hier an den Ufern des blauen Lemar! Auch die Sitten der Schweiz gefallen mir, namentlich die große persönliche Freiheit. Vor allem aber möchte ich meine Frau, eine sehr gebildete Genferin, nicht in ein Land führen, welches ich als das Land der Barbarei bezeichnen muß, obgleich es meine Heimat ist, und obgleich ich es glühend liebe. Ich schwieg. Indessen brachte Frau A. vorzüglichen russischen Thee; der Doktor warf einige Holzstücke auf die Kohlen des Kamins und fuhr fort: So! nun lassen Sie uns völlig vertraulich reden. Wir suchen beide warm und aufrichtig dasselbe Ziel: das Wohl der Menschheit. Sind unsre Wege zu diesem Ziele auch vielleicht ganz entgegengesetzt, so darf uns das nicht trennen. Ich glaube nicht, daß wir uns über die Wege vereinigen werden; aber wir werden uns darüber verständige», was ein jeder von uns will, und das ist auch etwas wert. So fasse auch ich die Sache. Mau kaun Indien durch den Suezkanal erreichen und durch den Panamakanal, d. h. wenn er erst fertig sein wird. Sie sind also Nihilist, Herr Doktor? Ja, und mit voller Überzeugung. Was ist denn Nihilist? Sehen Sie, Herr Bnron, wie sehr ich recht darin hatte, daß man in Deutsch¬ land nichts von uns weiß? Sie bekämpfen doch den Nihilismus? Ja, ganz entschieden. Und Sie wissen nicht einmal, was Nihilismus ist. Für einen ehemaligen Soldaten, verzeihen Sie mir, erscheint mir das mindestens sehr wunderbar. Wollen Sie einen Feind schlagen, so ist doch die erste Notwendigkeit, daß Sie ihn kennen. Ganz recht, Herr Doktor. Aber reicht es nicht aus, daß ich weiß, die Nihilisten sind in Rußland etwa dasselbe wie in Deutschland die Sozialdemokraten? A. lachte. Ich dachte es wohl; aber leider muß ich Ihnen sagen, daß das vollständig unwahr ist. Unwahr? Ja. fast in allen Punkten. Haben Sie je Gelegenheit gehabt, die deutsche Sozialdemokratie kennen zu lernen? Jawohl. Ich stand in Dresden an der Spitze des Wahlkomitees, welches den Kandidaten der drei Ordnungsparteien gegen den der Sozialdemokratie zu verteidigen hatte. Grenzboten IV. 1885. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/553>, abgerufen am 15.01.2025.