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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Mein Freund der Nihilist.

Und Wie gelang Ihnen das?

Leider schlecht genug.

Und welche Ansicht haben Sie damals von den Sozialdemokraten gewonnen?

Ich nehme den Hut vor ihnen ab. Sie waren ausgezeichnet organisirt und
disziplinirt; sie haben sich in den Wahlversammlungen vortrefflich benommen,
sie haben eine Opferwilligkeit bewiesen, welche uns alle im höchsten Grade
beschämte.

Es freut mich, Sie so gerecht zu sehen. Aber die Ziele der Sozialdemokratie,
wie denken Sie über die?

Das sind Utopien der schlimmsten Art; ihre Verwirklichung kann nur zum
furchtbarsten allgemeinen Elende führen.

Nun, die Antwort ist mindestens deutlich; ich sehe, in dieser Hinsicht sind
wir entschiedne Antipoden.

Das dachte ich wohl. Aber Sie wollten mir sage", was der russische Nihi¬
lismus ist.

Ganz recht. Ich werde ihn mit den deutsche" Verhältnissen vergleichen, da
wird Ih"e" der himmelweite Unterschied sofort in die Augen springen. Was
halten Sie für den Ursprung und die Ursachen der deutschen Sozialdemokratie?

Ja, das ist nicht so rasch n"d mit wenigen Worten zu sagen.

So besinne" Sie sich. Ich ka"" Ih"c" nicht helfen: wollen wir nicht der
Sache auf den Grund gehe", dann ist unser Gespräch überhaupt Zeitverschwendung.

Dr. A. hatte Recht. Also schwieg ich einige Minuten. Dann begann ich.

Meines Erachtens ist unser viclgerühmtcs Jahrhundert des raschen Fort¬
schrittes el" höchst ""glückliches zu nennen. Wir sind fortgeschritten, aber ans
den Abgrund zu. Vor allem ist es die schreckliche Erfindung des Dampfes, mit
ihren beide" Konsequenzen, den Eisenbahnen und den Fabriken, die uns ruinirt.
Noch in meiner Jugendzeit war es für die Menschen schwer, zu einander zu
kommen. Seit 1840 ist die Bevölkerung Europas aufgerüttelt und durcheinander
geworfen. Jeder hat die Möglichkeit, die Heimat zu verlassen, um anderswo
sein Glück zu versuchen. Natürlich glaubt jeder, das Glück wohne hinter den
Bergen. Versucht er nicht, es dort zu suchen, so bleibt der quälende Stachel
der unbefriedigten Sehnsucht in seinem Herzen; versucht er es, so findet er es
in deu wenigsten Fällen. Die alte Ruhe ist völlig aus der Welt geschwunden;
die Ansprüche an Glück lind an Genuß sind unendlich gesteigert, und wenn das
materielle Elend auch vielleicht nicht gewachsen sein sollte, so ist doch die Kluft
zwischen dem Begehren und der Erfüllung unendlich großer, und das Bewußt¬
sein davon weit stärker geworden, und damit naturgemäß auch das Verlange",
es abzuschüttel". Vielleicht hat die ackerbauende Bevölkerung es nicht besser
und nicht schlechter als srtther. Aber das Handwerk hat längst deu goldnen
Boden verloren; an seiner Stelle ist in den Städten und Fabrikbezirkc" ein
unsäglich unglückliches Proletariat emporgewachsen, durch die mechanisch geistlose


Mein Freund der Nihilist.

Und Wie gelang Ihnen das?

Leider schlecht genug.

Und welche Ansicht haben Sie damals von den Sozialdemokraten gewonnen?

Ich nehme den Hut vor ihnen ab. Sie waren ausgezeichnet organisirt und
disziplinirt; sie haben sich in den Wahlversammlungen vortrefflich benommen,
sie haben eine Opferwilligkeit bewiesen, welche uns alle im höchsten Grade
beschämte.

Es freut mich, Sie so gerecht zu sehen. Aber die Ziele der Sozialdemokratie,
wie denken Sie über die?

Das sind Utopien der schlimmsten Art; ihre Verwirklichung kann nur zum
furchtbarsten allgemeinen Elende führen.

Nun, die Antwort ist mindestens deutlich; ich sehe, in dieser Hinsicht sind
wir entschiedne Antipoden.

Das dachte ich wohl. Aber Sie wollten mir sage», was der russische Nihi¬
lismus ist.

Ganz recht. Ich werde ihn mit den deutsche» Verhältnissen vergleichen, da
wird Ih»e» der himmelweite Unterschied sofort in die Augen springen. Was
halten Sie für den Ursprung und die Ursachen der deutschen Sozialdemokratie?

Ja, das ist nicht so rasch n»d mit wenigen Worten zu sagen.

So besinne» Sie sich. Ich ka»» Ih»c» nicht helfen: wollen wir nicht der
Sache auf den Grund gehe», dann ist unser Gespräch überhaupt Zeitverschwendung.

Dr. A. hatte Recht. Also schwieg ich einige Minuten. Dann begann ich.

Meines Erachtens ist unser viclgerühmtcs Jahrhundert des raschen Fort¬
schrittes el» höchst »„glückliches zu nennen. Wir sind fortgeschritten, aber ans
den Abgrund zu. Vor allem ist es die schreckliche Erfindung des Dampfes, mit
ihren beide» Konsequenzen, den Eisenbahnen und den Fabriken, die uns ruinirt.
Noch in meiner Jugendzeit war es für die Menschen schwer, zu einander zu
kommen. Seit 1840 ist die Bevölkerung Europas aufgerüttelt und durcheinander
geworfen. Jeder hat die Möglichkeit, die Heimat zu verlassen, um anderswo
sein Glück zu versuchen. Natürlich glaubt jeder, das Glück wohne hinter den
Bergen. Versucht er nicht, es dort zu suchen, so bleibt der quälende Stachel
der unbefriedigten Sehnsucht in seinem Herzen; versucht er es, so findet er es
in deu wenigsten Fällen. Die alte Ruhe ist völlig aus der Welt geschwunden;
die Ansprüche an Glück lind an Genuß sind unendlich gesteigert, und wenn das
materielle Elend auch vielleicht nicht gewachsen sein sollte, so ist doch die Kluft
zwischen dem Begehren und der Erfüllung unendlich großer, und das Bewußt¬
sein davon weit stärker geworden, und damit naturgemäß auch das Verlange»,
es abzuschüttel». Vielleicht hat die ackerbauende Bevölkerung es nicht besser
und nicht schlechter als srtther. Aber das Handwerk hat längst deu goldnen
Boden verloren; an seiner Stelle ist in den Städten und Fabrikbezirkc» ein
unsäglich unglückliches Proletariat emporgewachsen, durch die mechanisch geistlose


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/554>, abgerufen am 15.01.2025.