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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dem Stilfser Joch.

seiner Muttersprache zu lesen verstand, wohl aber Gegenstände, die ihm sonst in
Hans und Hof aufstichen, zuletzt die Gesichter von Oheim und Tante, Nina
und dem Gaste.

Die Tante wollte scheltend auf Tonio losfahren und hatte nicht übel Lust,
die Scheltworte auch noch schlagkräftig zu begleiten, aber Harald trat dazwischen
und freute sich, in dem Knaben ein vielversprechendes Künstlertalent entdeckt zu
haben. Fortan blieben Nina und Tonio die steten Gesellschafter des Genesenden,
der ihnen bald zum Lehrer wurde und sie in allein möglichen Wissenswerten
unterrichtete. In dieser Beschäftigung verging dem Maler der helle Tag gar
schnell; am Abend aber saß er mit der Familie und dem Gesinde um den großen
Tisch, die Frauen spannen oder nähten, die Männer Schnitzler oder rauchten
und erzählten alte Geschichten, wie sie solche selbst in jüngern Jahren von ihren
Eltern gehört hatten. Harald fand an den biedern und treuherzigen Menschen
Gefallen; auch er gab ihnen einige passende Geschichten zum Besten und ver¬
suchte sich nicht ohne Geschick an den Schnitzarbeiten, sodaß er bald zu dem
ganzen Kreise in ein ungezwungenes und vertrautes Verhältnis kam.

War der Weg in der nächsten Umgebung irgendwie gangbar, dann fanden
sich anch die Schneebahner (rulturl) der benachbarten Kantonieren ein, und
durch diese konnte man zuweilen eine Nachricht von der bewohnten Erde er¬
halten, eine Nachricht, die aber nicht das Reich oder die große Welt betraf,
sondern höchstens darauf hinauslief, ob ein Kurat gestorben oder eine Lawine
gestürzt oder ein Stück Vieh gefallen sei. Der ganze Berg war mit Kcmtv-
nieren besetzt, und so konnte zuweilen eine Nachricht von der einen zur andern
gelangen, bis man sie in Santa Maria festhielt. In dieser Abgeschiedenheit er¬
holte sich nicht nur das Physische Befinden des Malers, sondern er lebte auch
innerlich wieder auf, er sehnte sich nicht mehr hinaus unter seinesgleichen,
sondern fühlte sich so heimisch, daß er garnicht den Gedanken aufkommen ließ,
wie er doch einst wieder seine jetzige Ncbelhöhle verlassen werde. Seinen braven
Wirten war es sicher nicht unbekannt geblieben, daß er mit schwerem Kummer
belastet auf dem Stilfser Joch angelangt war, zumal da er in seinen Phantasien
"ut Fiebermvnolvgen mancherlei verraten haben mochte, was der schlaue Michele,
der Wirt des Albergo, sich mit Hilfe seiner dicken Ehehälfte zu deuten verstand.
Aber bei aller Geschwätzigkeit ließ sich selbst Rosina nichts merken, alle
waren bemüht, den Gast mit jener Zartfühligkeit zu behandeln, welche mau
selten unter andern Völkern, häufig aber gerade bei den untersten Ständen
Italiens anzutreffen pflegt.

Die Unterhaltung am Abendtisch begann fast immer mit Erzählungen von
Lawinenstürzen und andern Unfällen, wie sie das böse Wetter im Winter und
um die Frühjahrswcnde anzurichten pflegte. Da gab es schaurige Beschreibungen,
wie dieser oder jener verunglückt sei, und es mischte sich Wahrheit und Sage
in bunter Gestaltung. Die Schneebahner waren hier die Helden dieser Er-


Auf dem Stilfser Joch.

seiner Muttersprache zu lesen verstand, wohl aber Gegenstände, die ihm sonst in
Hans und Hof aufstichen, zuletzt die Gesichter von Oheim und Tante, Nina
und dem Gaste.

Die Tante wollte scheltend auf Tonio losfahren und hatte nicht übel Lust,
die Scheltworte auch noch schlagkräftig zu begleiten, aber Harald trat dazwischen
und freute sich, in dem Knaben ein vielversprechendes Künstlertalent entdeckt zu
haben. Fortan blieben Nina und Tonio die steten Gesellschafter des Genesenden,
der ihnen bald zum Lehrer wurde und sie in allein möglichen Wissenswerten
unterrichtete. In dieser Beschäftigung verging dem Maler der helle Tag gar
schnell; am Abend aber saß er mit der Familie und dem Gesinde um den großen
Tisch, die Frauen spannen oder nähten, die Männer Schnitzler oder rauchten
und erzählten alte Geschichten, wie sie solche selbst in jüngern Jahren von ihren
Eltern gehört hatten. Harald fand an den biedern und treuherzigen Menschen
Gefallen; auch er gab ihnen einige passende Geschichten zum Besten und ver¬
suchte sich nicht ohne Geschick an den Schnitzarbeiten, sodaß er bald zu dem
ganzen Kreise in ein ungezwungenes und vertrautes Verhältnis kam.

War der Weg in der nächsten Umgebung irgendwie gangbar, dann fanden
sich anch die Schneebahner (rulturl) der benachbarten Kantonieren ein, und
durch diese konnte man zuweilen eine Nachricht von der bewohnten Erde er¬
halten, eine Nachricht, die aber nicht das Reich oder die große Welt betraf,
sondern höchstens darauf hinauslief, ob ein Kurat gestorben oder eine Lawine
gestürzt oder ein Stück Vieh gefallen sei. Der ganze Berg war mit Kcmtv-
nieren besetzt, und so konnte zuweilen eine Nachricht von der einen zur andern
gelangen, bis man sie in Santa Maria festhielt. In dieser Abgeschiedenheit er¬
holte sich nicht nur das Physische Befinden des Malers, sondern er lebte auch
innerlich wieder auf, er sehnte sich nicht mehr hinaus unter seinesgleichen,
sondern fühlte sich so heimisch, daß er garnicht den Gedanken aufkommen ließ,
wie er doch einst wieder seine jetzige Ncbelhöhle verlassen werde. Seinen braven
Wirten war es sicher nicht unbekannt geblieben, daß er mit schwerem Kummer
belastet auf dem Stilfser Joch angelangt war, zumal da er in seinen Phantasien
»ut Fiebermvnolvgen mancherlei verraten haben mochte, was der schlaue Michele,
der Wirt des Albergo, sich mit Hilfe seiner dicken Ehehälfte zu deuten verstand.
Aber bei aller Geschwätzigkeit ließ sich selbst Rosina nichts merken, alle
waren bemüht, den Gast mit jener Zartfühligkeit zu behandeln, welche mau
selten unter andern Völkern, häufig aber gerade bei den untersten Ständen
Italiens anzutreffen pflegt.

Die Unterhaltung am Abendtisch begann fast immer mit Erzählungen von
Lawinenstürzen und andern Unfällen, wie sie das böse Wetter im Winter und
um die Frühjahrswcnde anzurichten pflegte. Da gab es schaurige Beschreibungen,
wie dieser oder jener verunglückt sei, und es mischte sich Wahrheit und Sage
in bunter Gestaltung. Die Schneebahner waren hier die Helden dieser Er-


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[0509] Auf dem Stilfser Joch. seiner Muttersprache zu lesen verstand, wohl aber Gegenstände, die ihm sonst in Hans und Hof aufstichen, zuletzt die Gesichter von Oheim und Tante, Nina und dem Gaste. Die Tante wollte scheltend auf Tonio losfahren und hatte nicht übel Lust, die Scheltworte auch noch schlagkräftig zu begleiten, aber Harald trat dazwischen und freute sich, in dem Knaben ein vielversprechendes Künstlertalent entdeckt zu haben. Fortan blieben Nina und Tonio die steten Gesellschafter des Genesenden, der ihnen bald zum Lehrer wurde und sie in allein möglichen Wissenswerten unterrichtete. In dieser Beschäftigung verging dem Maler der helle Tag gar schnell; am Abend aber saß er mit der Familie und dem Gesinde um den großen Tisch, die Frauen spannen oder nähten, die Männer Schnitzler oder rauchten und erzählten alte Geschichten, wie sie solche selbst in jüngern Jahren von ihren Eltern gehört hatten. Harald fand an den biedern und treuherzigen Menschen Gefallen; auch er gab ihnen einige passende Geschichten zum Besten und ver¬ suchte sich nicht ohne Geschick an den Schnitzarbeiten, sodaß er bald zu dem ganzen Kreise in ein ungezwungenes und vertrautes Verhältnis kam. War der Weg in der nächsten Umgebung irgendwie gangbar, dann fanden sich anch die Schneebahner (rulturl) der benachbarten Kantonieren ein, und durch diese konnte man zuweilen eine Nachricht von der bewohnten Erde er¬ halten, eine Nachricht, die aber nicht das Reich oder die große Welt betraf, sondern höchstens darauf hinauslief, ob ein Kurat gestorben oder eine Lawine gestürzt oder ein Stück Vieh gefallen sei. Der ganze Berg war mit Kcmtv- nieren besetzt, und so konnte zuweilen eine Nachricht von der einen zur andern gelangen, bis man sie in Santa Maria festhielt. In dieser Abgeschiedenheit er¬ holte sich nicht nur das Physische Befinden des Malers, sondern er lebte auch innerlich wieder auf, er sehnte sich nicht mehr hinaus unter seinesgleichen, sondern fühlte sich so heimisch, daß er garnicht den Gedanken aufkommen ließ, wie er doch einst wieder seine jetzige Ncbelhöhle verlassen werde. Seinen braven Wirten war es sicher nicht unbekannt geblieben, daß er mit schwerem Kummer belastet auf dem Stilfser Joch angelangt war, zumal da er in seinen Phantasien »ut Fiebermvnolvgen mancherlei verraten haben mochte, was der schlaue Michele, der Wirt des Albergo, sich mit Hilfe seiner dicken Ehehälfte zu deuten verstand. Aber bei aller Geschwätzigkeit ließ sich selbst Rosina nichts merken, alle waren bemüht, den Gast mit jener Zartfühligkeit zu behandeln, welche mau selten unter andern Völkern, häufig aber gerade bei den untersten Ständen Italiens anzutreffen pflegt. Die Unterhaltung am Abendtisch begann fast immer mit Erzählungen von Lawinenstürzen und andern Unfällen, wie sie das böse Wetter im Winter und um die Frühjahrswcnde anzurichten pflegte. Da gab es schaurige Beschreibungen, wie dieser oder jener verunglückt sei, und es mischte sich Wahrheit und Sage in bunter Gestaltung. Die Schneebahner waren hier die Helden dieser Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/509>, abgerufen am 15.01.2025.