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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dein Stilfser I°es.

Mit jedem Tage ging es besser; die zähe und rüstige Natur des Künstlers
half sich dnrch; so erfuhr er auch nach und nach, daß er mehr als fünf Wochen
ohne Bewußtsein in steter Gefahr des Lebens geschwebt habe, und daß der Arzt
aus Bormio zum letztenmal": in der vergangnen Woche hier oben gewesen sei.
Seither, fügte die dicke Rosina, die Wirtin des Albergo, hinzu, konnte er, weil
der Stelvio und der Braulio völlig verschneit sind, nicht mehr herauf kommen
und wir alle, Ihr mit eingeschlossen, sind jetzt wie alle Jahre mindestens ans
vier bis fünf Monate gefangen. Wenn Ihr erst wieder aufstehen können und
zum Fenster Hinaussehen werdet, da wird Euch schon ganz weiß vor den Augen
werden. Weitaus, wohin man sieht, klaftertief Schnee und Eis. Aber des¬
wegen leiden wir doch keine Not, und Ihr habt nichts zu fürchten; es soll Euch
an nichts mangeln. Denn wir haben uns im Sommer und Herbst, wie es sich
wohl ziemt, gut verproviantirt, und Ihr sollt alles haben, was ein ehrlicher
Christenmensch verlangen kann, der nicht zu sehr Muttersöhnchen ist. Nur
Kurzweil, Herr, müßt Ihr Euch selber verschaffen, die haben wir weder zu ver¬
kaufen noch zu verschenken.

Harald konnte nichts erwiedern, denn die dicke Plaudertasche suchte das in
wochenlangem Schweigen versäumte selbst wieder einzubringen und fuhr unermüdlich
fort: Wir Frauen müssen tapfer nähen und die Sachen für die Wirtschaft wieder
zurecht machen, Betten und Leinen, die im Sommer schadhaft geworden sind.
Denn seit etlichen Jahren kommen gar viele lorvMori hier durch und bleiben
auch wohl Tage und Wochen hier oben. Deshalb können wir Alten es auch
nimmer ganz prästiren und haben die Kinder von meiner verstorbenen
Schwester zu uns genommen, daß sie uns zur Hand gehen und später einmal
das Albergo selbst leiten. Ihr kennt ja, Herr, die beiden, die blonde Nina
und den schwarzen Toniv. Seht, während wir Frauen nun ausbessern und
nahen und alles wieder zurecht machen, da müssen die Männer die Stuben
herstelle" und anstreichen, daß wieder alles hergerichtet ist, wenn es warm wird.
Aber zumeist hockt das faule Mannsvolk um den Ofen herum und befiehlt nnr,
daß man ihm zu essen und zu trinken bringt. Besonders die jungen Tauge¬
nichtse, Herr, die wollen überhaupt nicht mehr schaffen.

Harald gelang es, die Redselige mit der Frage zu unterbrechen: Habt Ihr
keine Bücher im Hause?

Außer dem L!g.1vnäari0 werden wohl noch zwei oder drei Bücher
zu finden sein, die im letzten Herbst ein Milordo Jnglcse hier zurückgelassen
hat. He, Tvnio, Toniv, hole einmal die Bücher von dem Milordo von der
Bühne herab.

Tvnio brachte zögernd einen Band der Tanchnitz - Edition herbei, es war
Adam Bete von George Elliot, aber in einer sehr eigentümlichen Verfassung; denn
an den weißen Blatträndern fanden sich Illustrationen von Tvnio, zwar nicht
solche, die zu dem Inhalt des Buches stimmten, da der Knabe nicht einmal in


Auf dein Stilfser I°es.

Mit jedem Tage ging es besser; die zähe und rüstige Natur des Künstlers
half sich dnrch; so erfuhr er auch nach und nach, daß er mehr als fünf Wochen
ohne Bewußtsein in steter Gefahr des Lebens geschwebt habe, und daß der Arzt
aus Bormio zum letztenmal«: in der vergangnen Woche hier oben gewesen sei.
Seither, fügte die dicke Rosina, die Wirtin des Albergo, hinzu, konnte er, weil
der Stelvio und der Braulio völlig verschneit sind, nicht mehr herauf kommen
und wir alle, Ihr mit eingeschlossen, sind jetzt wie alle Jahre mindestens ans
vier bis fünf Monate gefangen. Wenn Ihr erst wieder aufstehen können und
zum Fenster Hinaussehen werdet, da wird Euch schon ganz weiß vor den Augen
werden. Weitaus, wohin man sieht, klaftertief Schnee und Eis. Aber des¬
wegen leiden wir doch keine Not, und Ihr habt nichts zu fürchten; es soll Euch
an nichts mangeln. Denn wir haben uns im Sommer und Herbst, wie es sich
wohl ziemt, gut verproviantirt, und Ihr sollt alles haben, was ein ehrlicher
Christenmensch verlangen kann, der nicht zu sehr Muttersöhnchen ist. Nur
Kurzweil, Herr, müßt Ihr Euch selber verschaffen, die haben wir weder zu ver¬
kaufen noch zu verschenken.

Harald konnte nichts erwiedern, denn die dicke Plaudertasche suchte das in
wochenlangem Schweigen versäumte selbst wieder einzubringen und fuhr unermüdlich
fort: Wir Frauen müssen tapfer nähen und die Sachen für die Wirtschaft wieder
zurecht machen, Betten und Leinen, die im Sommer schadhaft geworden sind.
Denn seit etlichen Jahren kommen gar viele lorvMori hier durch und bleiben
auch wohl Tage und Wochen hier oben. Deshalb können wir Alten es auch
nimmer ganz prästiren und haben die Kinder von meiner verstorbenen
Schwester zu uns genommen, daß sie uns zur Hand gehen und später einmal
das Albergo selbst leiten. Ihr kennt ja, Herr, die beiden, die blonde Nina
und den schwarzen Toniv. Seht, während wir Frauen nun ausbessern und
nahen und alles wieder zurecht machen, da müssen die Männer die Stuben
herstelle» und anstreichen, daß wieder alles hergerichtet ist, wenn es warm wird.
Aber zumeist hockt das faule Mannsvolk um den Ofen herum und befiehlt nnr,
daß man ihm zu essen und zu trinken bringt. Besonders die jungen Tauge¬
nichtse, Herr, die wollen überhaupt nicht mehr schaffen.

Harald gelang es, die Redselige mit der Frage zu unterbrechen: Habt Ihr
keine Bücher im Hause?

Außer dem L!g.1vnäari0 werden wohl noch zwei oder drei Bücher
zu finden sein, die im letzten Herbst ein Milordo Jnglcse hier zurückgelassen
hat. He, Tvnio, Toniv, hole einmal die Bücher von dem Milordo von der
Bühne herab.

Tvnio brachte zögernd einen Band der Tanchnitz - Edition herbei, es war
Adam Bete von George Elliot, aber in einer sehr eigentümlichen Verfassung; denn
an den weißen Blatträndern fanden sich Illustrationen von Tvnio, zwar nicht
solche, die zu dem Inhalt des Buches stimmten, da der Knabe nicht einmal in


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[0508] Auf dein Stilfser I°es. Mit jedem Tage ging es besser; die zähe und rüstige Natur des Künstlers half sich dnrch; so erfuhr er auch nach und nach, daß er mehr als fünf Wochen ohne Bewußtsein in steter Gefahr des Lebens geschwebt habe, und daß der Arzt aus Bormio zum letztenmal«: in der vergangnen Woche hier oben gewesen sei. Seither, fügte die dicke Rosina, die Wirtin des Albergo, hinzu, konnte er, weil der Stelvio und der Braulio völlig verschneit sind, nicht mehr herauf kommen und wir alle, Ihr mit eingeschlossen, sind jetzt wie alle Jahre mindestens ans vier bis fünf Monate gefangen. Wenn Ihr erst wieder aufstehen können und zum Fenster Hinaussehen werdet, da wird Euch schon ganz weiß vor den Augen werden. Weitaus, wohin man sieht, klaftertief Schnee und Eis. Aber des¬ wegen leiden wir doch keine Not, und Ihr habt nichts zu fürchten; es soll Euch an nichts mangeln. Denn wir haben uns im Sommer und Herbst, wie es sich wohl ziemt, gut verproviantirt, und Ihr sollt alles haben, was ein ehrlicher Christenmensch verlangen kann, der nicht zu sehr Muttersöhnchen ist. Nur Kurzweil, Herr, müßt Ihr Euch selber verschaffen, die haben wir weder zu ver¬ kaufen noch zu verschenken. Harald konnte nichts erwiedern, denn die dicke Plaudertasche suchte das in wochenlangem Schweigen versäumte selbst wieder einzubringen und fuhr unermüdlich fort: Wir Frauen müssen tapfer nähen und die Sachen für die Wirtschaft wieder zurecht machen, Betten und Leinen, die im Sommer schadhaft geworden sind. Denn seit etlichen Jahren kommen gar viele lorvMori hier durch und bleiben auch wohl Tage und Wochen hier oben. Deshalb können wir Alten es auch nimmer ganz prästiren und haben die Kinder von meiner verstorbenen Schwester zu uns genommen, daß sie uns zur Hand gehen und später einmal das Albergo selbst leiten. Ihr kennt ja, Herr, die beiden, die blonde Nina und den schwarzen Toniv. Seht, während wir Frauen nun ausbessern und nahen und alles wieder zurecht machen, da müssen die Männer die Stuben herstelle» und anstreichen, daß wieder alles hergerichtet ist, wenn es warm wird. Aber zumeist hockt das faule Mannsvolk um den Ofen herum und befiehlt nnr, daß man ihm zu essen und zu trinken bringt. Besonders die jungen Tauge¬ nichtse, Herr, die wollen überhaupt nicht mehr schaffen. Harald gelang es, die Redselige mit der Frage zu unterbrechen: Habt Ihr keine Bücher im Hause? Außer dem L!g.1vnäari0 werden wohl noch zwei oder drei Bücher zu finden sein, die im letzten Herbst ein Milordo Jnglcse hier zurückgelassen hat. He, Tvnio, Toniv, hole einmal die Bücher von dem Milordo von der Bühne herab. Tvnio brachte zögernd einen Band der Tanchnitz - Edition herbei, es war Adam Bete von George Elliot, aber in einer sehr eigentümlichen Verfassung; denn an den weißen Blatträndern fanden sich Illustrationen von Tvnio, zwar nicht solche, die zu dem Inhalt des Buches stimmten, da der Knabe nicht einmal in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/508>, abgerufen am 15.01.2025.