Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Aulturärzte. dich den Blick senken läßt, es ist ein edleres, kräftigeres Gefühl, Das. was dich da Aber du hättest deine Augen ruhig aufbehalten können. Der Mann mit Im Gegenteil, das stört ihn, das muß er ignoriren, um besser operiren Daß ich mich hier auf kürzlich an dieser Stelle besprochene populäre Aulturärzte. dich den Blick senken läßt, es ist ein edleres, kräftigeres Gefühl, Das. was dich da Aber du hättest deine Augen ruhig aufbehalten können. Der Mann mit Im Gegenteil, das stört ihn, das muß er ignoriren, um besser operiren Daß ich mich hier auf kürzlich an dieser Stelle besprochene populäre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0045" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196779"/> <fw type="header" place="top"> Aulturärzte.</fw><lb/> <p xml:id="ID_107" prev="#ID_106"> dich den Blick senken läßt, es ist ein edleres, kräftigeres Gefühl, Das. was dich da<lb/> anblickt hinter der goldnen Brille, ist ein absolut Fremdes, es ist nicht der Blick<lb/> des Menschen zum Menschen; vor diesem Blick bist du nicht Mensch, nur „lebender<lb/> Körper," Material, und darum ziehst du den Vorhang vor den Menschen in dir,<lb/> damit die beschäftigten Augen hinter der goldnen Brille nur das Material sehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_108"> Aber du hättest deine Augen ruhig aufbehalten können. Der Mann mit<lb/> der goldnen Brille sieht den Menschen in dir garnicht, und wenn er ihn je<lb/> gesehen, so hat er es längst verlernt. Er hat so viel zu thun mit der Menschheit<lb/> und ihrem Fortschritt, er hat so viel zu operiren, zu verbessern und zu erfinden,<lb/> daß er sich um die einzelnen Menschlein mit ihrem gegenwärtigen Fühlen und<lb/> Wollen, Wahren und Streben nicht bekümmern kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_109"> Im Gegenteil, das stört ihn, das muß er ignoriren, um besser operiren<lb/> zu können, und erst dann ist er wirklicher Knlturarzt, wenn er es überall und<lb/> mit Virtuosität ignoriren kann. Begegnet es ihm trotzdem noch hin und wieder,<lb/> daß es sich ihm unliebsam aufdrängt, so wird er wild und erklärt es für eine<lb/> „konventionelle Lüge der Kulturmenschheit" oder er fertigt es weise mit einem<lb/> „Paradoxon" ab.</p><lb/> <p xml:id="ID_110"> Daß ich mich hier auf kürzlich an dieser Stelle besprochene populäre<lb/> Schriften eines Arztes beziehe, ist kein Zufall. Es ist nur zu bekannt, wie<lb/> enorm die Produktion auf diesem Gebiete ist. Sie läßt nach einem alten<lb/> nationalökonomischen Gesetze auf Nachfrage und Absatz schließen. Wie „wenig<lb/> paradox" (welch ein Euphemismus!) alle diese Dinge sind, ist damals mit Recht<lb/> hervorgehoben worden; wir meinen hier natürlich nur den großen Ausschnitt<lb/> aus dieser populären Literatur, den wir unter dem Gesamttitel „medizinische<lb/> Aufklärungsliteratur" begreifen möchten. Es bleibt sich gleich, ob sie durch<lb/> Wort oder Schrift vor das Publikum tritt, und der populäre Vortrag, ob er<lb/> nun im Gewerbeverein irgendeines Krähwinkels oder im Hörsaal eines berühmten<lb/> Universitätsprofessors gehalten wird, muß natürlich auch hierher gerechnet werden.<lb/> In der That, wie sind sie so wenig paradox, alle diese Dinge: Bücher und<lb/> Menschen, Stereotypauflagen der Kraft- und Stoffliteratur seit dem nicht genau<lb/> bestimmbaren Jahre, in dem sich „die Naturwissenschaften zum erstenmale auf<lb/> dem Gipfel ihrer Entwicklung" befanden! Immer dasselbe gelehrte Mäntelchen,<lb/> aufgeputzt mit einigem funkelnagelnenen physiologischen Flitter, und darunter<lb/> immer wieder dieselbe dürre Hohlgestalt des fahrenden Ritters der Natur-<lb/> wissenschaft, der sein stumpfes Lcinzchen bricht für die alleinige und unumschränkte<lb/> Majestät seiner Herrin. Wehe euch, ihr Verächter der chlvrduftenden Dueim,<lb/> wehe allen, die sich ihr nicht bedingungslos beugen! O ihr Guten! Die Zeiten<lb/> sind vorüber, wo philosophische Hitzköpfe zu richtigen Kampfe sich euch in den<lb/> Weg stellten, ihr habt nicht einmal klappernde Windmühlen mehr zu Gegnern,<lb/> und dennoch tummelt ihr noch immer die Rosincmteu durch die öden Steppen<lb/> eurer Mancha.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0045]
Aulturärzte.
dich den Blick senken läßt, es ist ein edleres, kräftigeres Gefühl, Das. was dich da
anblickt hinter der goldnen Brille, ist ein absolut Fremdes, es ist nicht der Blick
des Menschen zum Menschen; vor diesem Blick bist du nicht Mensch, nur „lebender
Körper," Material, und darum ziehst du den Vorhang vor den Menschen in dir,
damit die beschäftigten Augen hinter der goldnen Brille nur das Material sehen.
Aber du hättest deine Augen ruhig aufbehalten können. Der Mann mit
der goldnen Brille sieht den Menschen in dir garnicht, und wenn er ihn je
gesehen, so hat er es längst verlernt. Er hat so viel zu thun mit der Menschheit
und ihrem Fortschritt, er hat so viel zu operiren, zu verbessern und zu erfinden,
daß er sich um die einzelnen Menschlein mit ihrem gegenwärtigen Fühlen und
Wollen, Wahren und Streben nicht bekümmern kann.
Im Gegenteil, das stört ihn, das muß er ignoriren, um besser operiren
zu können, und erst dann ist er wirklicher Knlturarzt, wenn er es überall und
mit Virtuosität ignoriren kann. Begegnet es ihm trotzdem noch hin und wieder,
daß es sich ihm unliebsam aufdrängt, so wird er wild und erklärt es für eine
„konventionelle Lüge der Kulturmenschheit" oder er fertigt es weise mit einem
„Paradoxon" ab.
Daß ich mich hier auf kürzlich an dieser Stelle besprochene populäre
Schriften eines Arztes beziehe, ist kein Zufall. Es ist nur zu bekannt, wie
enorm die Produktion auf diesem Gebiete ist. Sie läßt nach einem alten
nationalökonomischen Gesetze auf Nachfrage und Absatz schließen. Wie „wenig
paradox" (welch ein Euphemismus!) alle diese Dinge sind, ist damals mit Recht
hervorgehoben worden; wir meinen hier natürlich nur den großen Ausschnitt
aus dieser populären Literatur, den wir unter dem Gesamttitel „medizinische
Aufklärungsliteratur" begreifen möchten. Es bleibt sich gleich, ob sie durch
Wort oder Schrift vor das Publikum tritt, und der populäre Vortrag, ob er
nun im Gewerbeverein irgendeines Krähwinkels oder im Hörsaal eines berühmten
Universitätsprofessors gehalten wird, muß natürlich auch hierher gerechnet werden.
In der That, wie sind sie so wenig paradox, alle diese Dinge: Bücher und
Menschen, Stereotypauflagen der Kraft- und Stoffliteratur seit dem nicht genau
bestimmbaren Jahre, in dem sich „die Naturwissenschaften zum erstenmale auf
dem Gipfel ihrer Entwicklung" befanden! Immer dasselbe gelehrte Mäntelchen,
aufgeputzt mit einigem funkelnagelnenen physiologischen Flitter, und darunter
immer wieder dieselbe dürre Hohlgestalt des fahrenden Ritters der Natur-
wissenschaft, der sein stumpfes Lcinzchen bricht für die alleinige und unumschränkte
Majestät seiner Herrin. Wehe euch, ihr Verächter der chlvrduftenden Dueim,
wehe allen, die sich ihr nicht bedingungslos beugen! O ihr Guten! Die Zeiten
sind vorüber, wo philosophische Hitzköpfe zu richtigen Kampfe sich euch in den
Weg stellten, ihr habt nicht einmal klappernde Windmühlen mehr zu Gegnern,
und dennoch tummelt ihr noch immer die Rosincmteu durch die öden Steppen
eurer Mancha.
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