Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Iwan Gontscharow.

ist zu schwer für ihn, auch dies eine Last, unter der er zusammenbricht! Mit
der ganzen klaren Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit solcher Naturen erklärt
Oblomow seiner Olga, daß sie ihn doch nicht lieben könne, er sei ihrer
unwert u. s. w. Das edle Mädchen muß erkennen, daß es in Wahrheit
der eignen Weiblichkeit, die selbst ein Bedürfnis nach männlicher Stütze habe,
zu viel zugemutet habe, und wir finden es nur gerechtfertigt, daß sie dann
Stolz heiratet, um mit ihm glücklich zu werden. Indessen wird Oblomow
immer älter, zugleich werden die Erinnerungen seiner Jugend stärker, und
ein Leben, wie es seine Eltern auf ihrem Gute geführt haben: ein feines
Essen, viel Schlafen und wenig Denken, ein bischen Klatschen und im
übrigen teilnahmslos zum Fenster hinausschauen, erscheint ihm als das wahre
Lebensideal. Das ist die "Oblomvwerei." Und die tiefe Ironie des Dichters ge¬
währt ihm auch diesen höchsten Wunsch. Oblomow findet ein Weib, drall und
dumm, aber unendlich gutmütig und Meisterin der Kochkunst. Sie wird seine
Wirtschafterin, ja er heiratet diese Witwe samt ihren Kindern, da sie ihm die
Oblomvwerei so herrlich gewährt. Und nun liegt er wieder zu Hanse, auf dem
Divan, konferirt vormittags stundenlang über den Speisezettel, dann legt er sich
schlafen, geht ein wenig im Garten spazieren, nimmt wieder Anteil an der Sorge
fürs Abendessen, u. s. f. mit Grazie, bis ihn eines Tages ein sanfter Schlag
rührt und ihn von der Pflicht zu leben erlöst. Wäre Stolz nicht, der sich der Ver¬
waltung seiner Güter uneigennützig angenommen hat, wer weiß, Oblomow hätte
sich noch all sein Hab und Gut nehmen lassen, wie er sich überhaupt schon um
einen Teil seiner Einkünfte hat prellen lassen. Und in dem Schicksale des ganz
zur Oblomvwerei gehörenden Kammerdieners zeigt uns der zürnende Dichter,
wohin es mit ihr kommt: Sandar finden wir als jämmerlichen Bettler an den
Kirchenthüren hocken.

"Oblomow" ist wohl die beißendste Satire auf die Schwächen des slawischen
Volkscharakters, die wir kennen, interessant für den, der sich speziell für diese
Literatur interessirt, peinlich für den, der in einer Romandichtung Unterhal¬
tung sucht.


Moritz Necker.


Grenzboten IV. 1385.5Ü
Iwan Gontscharow.

ist zu schwer für ihn, auch dies eine Last, unter der er zusammenbricht! Mit
der ganzen klaren Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit solcher Naturen erklärt
Oblomow seiner Olga, daß sie ihn doch nicht lieben könne, er sei ihrer
unwert u. s. w. Das edle Mädchen muß erkennen, daß es in Wahrheit
der eignen Weiblichkeit, die selbst ein Bedürfnis nach männlicher Stütze habe,
zu viel zugemutet habe, und wir finden es nur gerechtfertigt, daß sie dann
Stolz heiratet, um mit ihm glücklich zu werden. Indessen wird Oblomow
immer älter, zugleich werden die Erinnerungen seiner Jugend stärker, und
ein Leben, wie es seine Eltern auf ihrem Gute geführt haben: ein feines
Essen, viel Schlafen und wenig Denken, ein bischen Klatschen und im
übrigen teilnahmslos zum Fenster hinausschauen, erscheint ihm als das wahre
Lebensideal. Das ist die „Oblomvwerei." Und die tiefe Ironie des Dichters ge¬
währt ihm auch diesen höchsten Wunsch. Oblomow findet ein Weib, drall und
dumm, aber unendlich gutmütig und Meisterin der Kochkunst. Sie wird seine
Wirtschafterin, ja er heiratet diese Witwe samt ihren Kindern, da sie ihm die
Oblomvwerei so herrlich gewährt. Und nun liegt er wieder zu Hanse, auf dem
Divan, konferirt vormittags stundenlang über den Speisezettel, dann legt er sich
schlafen, geht ein wenig im Garten spazieren, nimmt wieder Anteil an der Sorge
fürs Abendessen, u. s. f. mit Grazie, bis ihn eines Tages ein sanfter Schlag
rührt und ihn von der Pflicht zu leben erlöst. Wäre Stolz nicht, der sich der Ver¬
waltung seiner Güter uneigennützig angenommen hat, wer weiß, Oblomow hätte
sich noch all sein Hab und Gut nehmen lassen, wie er sich überhaupt schon um
einen Teil seiner Einkünfte hat prellen lassen. Und in dem Schicksale des ganz
zur Oblomvwerei gehörenden Kammerdieners zeigt uns der zürnende Dichter,
wohin es mit ihr kommt: Sandar finden wir als jämmerlichen Bettler an den
Kirchenthüren hocken.

„Oblomow" ist wohl die beißendste Satire auf die Schwächen des slawischen
Volkscharakters, die wir kennen, interessant für den, der sich speziell für diese
Literatur interessirt, peinlich für den, der in einer Romandichtung Unterhal¬
tung sucht.


Moritz Necker.


Grenzboten IV. 1385.5Ü
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0441" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197175"/>
          <fw type="header" place="top"> Iwan Gontscharow.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1417" prev="#ID_1416"> ist zu schwer für ihn, auch dies eine Last, unter der er zusammenbricht! Mit<lb/>
der ganzen klaren Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit solcher Naturen erklärt<lb/>
Oblomow seiner Olga, daß sie ihn doch nicht lieben könne, er sei ihrer<lb/>
unwert u. s. w. Das edle Mädchen muß erkennen, daß es in Wahrheit<lb/>
der eignen Weiblichkeit, die selbst ein Bedürfnis nach männlicher Stütze habe,<lb/>
zu viel zugemutet habe, und wir finden es nur gerechtfertigt, daß sie dann<lb/>
Stolz heiratet, um mit ihm glücklich zu werden. Indessen wird Oblomow<lb/>
immer älter, zugleich werden die Erinnerungen seiner Jugend stärker, und<lb/>
ein Leben, wie es seine Eltern auf ihrem Gute geführt haben: ein feines<lb/>
Essen, viel Schlafen und wenig Denken, ein bischen Klatschen und im<lb/>
übrigen teilnahmslos zum Fenster hinausschauen, erscheint ihm als das wahre<lb/>
Lebensideal. Das ist die &#x201E;Oblomvwerei." Und die tiefe Ironie des Dichters ge¬<lb/>
währt ihm auch diesen höchsten Wunsch. Oblomow findet ein Weib, drall und<lb/>
dumm, aber unendlich gutmütig und Meisterin der Kochkunst. Sie wird seine<lb/>
Wirtschafterin, ja er heiratet diese Witwe samt ihren Kindern, da sie ihm die<lb/>
Oblomvwerei so herrlich gewährt. Und nun liegt er wieder zu Hanse, auf dem<lb/>
Divan, konferirt vormittags stundenlang über den Speisezettel, dann legt er sich<lb/>
schlafen, geht ein wenig im Garten spazieren, nimmt wieder Anteil an der Sorge<lb/>
fürs Abendessen, u. s. f. mit Grazie, bis ihn eines Tages ein sanfter Schlag<lb/>
rührt und ihn von der Pflicht zu leben erlöst. Wäre Stolz nicht, der sich der Ver¬<lb/>
waltung seiner Güter uneigennützig angenommen hat, wer weiß, Oblomow hätte<lb/>
sich noch all sein Hab und Gut nehmen lassen, wie er sich überhaupt schon um<lb/>
einen Teil seiner Einkünfte hat prellen lassen. Und in dem Schicksale des ganz<lb/>
zur Oblomvwerei gehörenden Kammerdieners zeigt uns der zürnende Dichter,<lb/>
wohin es mit ihr kommt: Sandar finden wir als jämmerlichen Bettler an den<lb/>
Kirchenthüren hocken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1418"> &#x201E;Oblomow" ist wohl die beißendste Satire auf die Schwächen des slawischen<lb/>
Volkscharakters, die wir kennen, interessant für den, der sich speziell für diese<lb/>
Literatur interessirt, peinlich für den, der in einer Romandichtung Unterhal¬<lb/>
tung sucht.</p><lb/>
          <note type="byline"> Moritz Necker.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1385.5Ü</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0441] Iwan Gontscharow. ist zu schwer für ihn, auch dies eine Last, unter der er zusammenbricht! Mit der ganzen klaren Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit solcher Naturen erklärt Oblomow seiner Olga, daß sie ihn doch nicht lieben könne, er sei ihrer unwert u. s. w. Das edle Mädchen muß erkennen, daß es in Wahrheit der eignen Weiblichkeit, die selbst ein Bedürfnis nach männlicher Stütze habe, zu viel zugemutet habe, und wir finden es nur gerechtfertigt, daß sie dann Stolz heiratet, um mit ihm glücklich zu werden. Indessen wird Oblomow immer älter, zugleich werden die Erinnerungen seiner Jugend stärker, und ein Leben, wie es seine Eltern auf ihrem Gute geführt haben: ein feines Essen, viel Schlafen und wenig Denken, ein bischen Klatschen und im übrigen teilnahmslos zum Fenster hinausschauen, erscheint ihm als das wahre Lebensideal. Das ist die „Oblomvwerei." Und die tiefe Ironie des Dichters ge¬ währt ihm auch diesen höchsten Wunsch. Oblomow findet ein Weib, drall und dumm, aber unendlich gutmütig und Meisterin der Kochkunst. Sie wird seine Wirtschafterin, ja er heiratet diese Witwe samt ihren Kindern, da sie ihm die Oblomvwerei so herrlich gewährt. Und nun liegt er wieder zu Hanse, auf dem Divan, konferirt vormittags stundenlang über den Speisezettel, dann legt er sich schlafen, geht ein wenig im Garten spazieren, nimmt wieder Anteil an der Sorge fürs Abendessen, u. s. f. mit Grazie, bis ihn eines Tages ein sanfter Schlag rührt und ihn von der Pflicht zu leben erlöst. Wäre Stolz nicht, der sich der Ver¬ waltung seiner Güter uneigennützig angenommen hat, wer weiß, Oblomow hätte sich noch all sein Hab und Gut nehmen lassen, wie er sich überhaupt schon um einen Teil seiner Einkünfte hat prellen lassen. Und in dem Schicksale des ganz zur Oblomvwerei gehörenden Kammerdieners zeigt uns der zürnende Dichter, wohin es mit ihr kommt: Sandar finden wir als jämmerlichen Bettler an den Kirchenthüren hocken. „Oblomow" ist wohl die beißendste Satire auf die Schwächen des slawischen Volkscharakters, die wir kennen, interessant für den, der sich speziell für diese Literatur interessirt, peinlich für den, der in einer Romandichtung Unterhal¬ tung sucht. Moritz Necker. Grenzboten IV. 1385.5Ü

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/441
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/441>, abgerufen am 15.01.2025.