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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Iwan Gontscharow.

der Verwalter ihn auch um die Hälfte des Einkommens kürzen wollte; alles
ist Gottes Wille. Dieser langweilige, handlungsunfähige, echt slawische Fata¬
lismus ist in Oblomow verkörpert. Auch er kommt nach Petersburg und tritt
in ein Amt ein, wo flinke Arbeit gefordert wird; er giebt es aber bald auf,
eine Karriere zu machen, und da ihn fein Einkommen zum Geldverdienst nicht
absolut zwingt, so zieht er sich in gleich gütiger Entsagung von allen Freuden
und Pflichten der Gesellschaft auf seine vier Wände zurück. Die Zeit verbringt
er mit schlummernden Hinbrüten auf seinem Sofa, was er "Denken" nennt.
Ein Buch zu lesen ist eine Arbeit, die er nach zwei Seiten aufgiebt, eine"
Brief zu schreiben ist ein ganzes Ereignis für ihn, weil es ihm sowohl an Tinte
als an Papier fehlt. Er ist so willenlos, daß er sich von seinem schurkischen
Kammerdiener und von andern Schmarotzern an allen Ecken und Enden be-
stehlen läßt. Er hat nicht die Kraft, sich selbst anzukleiden, selbst die Strümpfe
müssen ihm aus- und angezogen werden. Die Wohnung wird ihm gekündigt,
und eine neue suchen zu müssen, bringt ihn zur Verzweiflung. Dabei ist er
im Grunde gutmütig, eine edle Seele, auch begabt, hat über Poesie ein feines
Urteil, mich beurteilt er die Menschen ganz richtig, nur selbständig, selbstthätig
zu sein, einen Willen zu haben, versteht er nicht. Er hat einen Jugendfreund,
der ihm schon in der Schule die Persa machen half, der Sohn eines nach
Nußland zuerst als Hauslehrer verschlagenen Deutschen, der dann eine Russin
geheiratet hatte und als Verwalter unermüdlich thätig auf dem Gute des Herrn
sitzen blieb. Dieser Schulfreund, Reinhard Stolz, hatte inzwischen seinen Weg
gemacht, wurde Direktor einer großen Unternehmung und ist im Gegensatze zum
unbeweglichen Oblomow immer aus Reisen. Stolz versucht es nun, Oblomow
aufzurütteln, in ein thätiges Leben hineinzuziehen. Einen Augenblick lang wird
er auch in der That clcktrisirt, er liebt Stolz aufrichtig, giebt ihm Recht, es
nützt aber doch nichts. Der Arzt hatte dem Trägen ernstlichen Schaden an
seiner Gesundheit als Folge seiner Lebensweise angekündigt, er solle reisen,
Bäder besuchen, Italien, Ägypten sehen, Stolz will ihn mit sich nehmen nach
London, nach Paris -- Oblomow ist ganz einverstanden damit und trifft einige
Vorbereitungen dazu, bleibt aber am Eude doch zu Hause, aus Scheu vor den
Unbequemlichkeiten der Reise. Stolz macht ihn mit einem feinen, edeln weib¬
lichen Wesen bekannt, Olga entzückt ihn mit ihrem tief empfundenen Gesänge,
sie interessirt sich für ihn, der naiv und ehrlich auftritt. Oblomow verliebt sich,
wie es scheint, leidenschaftlich in Olga. Diese kommt ihm entgegen, trachtet
ihrerseits ihn aufzurütteln, sie thut alles mögliche, was nur ein edles Weib
thun kann, einen Mann zu ermutigen, zu begeistern. Oblomow ist nun vor
die Pflicht gestellt, nicht etwa zu arbeiten, nein, denn sein und ihr Vermögen
kann sie beide der Geldsorge entheben, sondern nur die unumgänglichen Vor¬
kehrungen für die Heirat zu treffen, bei den Behörden vorzusprechen, sein
Gut in bessere Hände zu geben und dergleichen Dinge mehr. Auch dies aber


Iwan Gontscharow.

der Verwalter ihn auch um die Hälfte des Einkommens kürzen wollte; alles
ist Gottes Wille. Dieser langweilige, handlungsunfähige, echt slawische Fata¬
lismus ist in Oblomow verkörpert. Auch er kommt nach Petersburg und tritt
in ein Amt ein, wo flinke Arbeit gefordert wird; er giebt es aber bald auf,
eine Karriere zu machen, und da ihn fein Einkommen zum Geldverdienst nicht
absolut zwingt, so zieht er sich in gleich gütiger Entsagung von allen Freuden
und Pflichten der Gesellschaft auf seine vier Wände zurück. Die Zeit verbringt
er mit schlummernden Hinbrüten auf seinem Sofa, was er „Denken" nennt.
Ein Buch zu lesen ist eine Arbeit, die er nach zwei Seiten aufgiebt, eine«
Brief zu schreiben ist ein ganzes Ereignis für ihn, weil es ihm sowohl an Tinte
als an Papier fehlt. Er ist so willenlos, daß er sich von seinem schurkischen
Kammerdiener und von andern Schmarotzern an allen Ecken und Enden be-
stehlen läßt. Er hat nicht die Kraft, sich selbst anzukleiden, selbst die Strümpfe
müssen ihm aus- und angezogen werden. Die Wohnung wird ihm gekündigt,
und eine neue suchen zu müssen, bringt ihn zur Verzweiflung. Dabei ist er
im Grunde gutmütig, eine edle Seele, auch begabt, hat über Poesie ein feines
Urteil, mich beurteilt er die Menschen ganz richtig, nur selbständig, selbstthätig
zu sein, einen Willen zu haben, versteht er nicht. Er hat einen Jugendfreund,
der ihm schon in der Schule die Persa machen half, der Sohn eines nach
Nußland zuerst als Hauslehrer verschlagenen Deutschen, der dann eine Russin
geheiratet hatte und als Verwalter unermüdlich thätig auf dem Gute des Herrn
sitzen blieb. Dieser Schulfreund, Reinhard Stolz, hatte inzwischen seinen Weg
gemacht, wurde Direktor einer großen Unternehmung und ist im Gegensatze zum
unbeweglichen Oblomow immer aus Reisen. Stolz versucht es nun, Oblomow
aufzurütteln, in ein thätiges Leben hineinzuziehen. Einen Augenblick lang wird
er auch in der That clcktrisirt, er liebt Stolz aufrichtig, giebt ihm Recht, es
nützt aber doch nichts. Der Arzt hatte dem Trägen ernstlichen Schaden an
seiner Gesundheit als Folge seiner Lebensweise angekündigt, er solle reisen,
Bäder besuchen, Italien, Ägypten sehen, Stolz will ihn mit sich nehmen nach
London, nach Paris — Oblomow ist ganz einverstanden damit und trifft einige
Vorbereitungen dazu, bleibt aber am Eude doch zu Hause, aus Scheu vor den
Unbequemlichkeiten der Reise. Stolz macht ihn mit einem feinen, edeln weib¬
lichen Wesen bekannt, Olga entzückt ihn mit ihrem tief empfundenen Gesänge,
sie interessirt sich für ihn, der naiv und ehrlich auftritt. Oblomow verliebt sich,
wie es scheint, leidenschaftlich in Olga. Diese kommt ihm entgegen, trachtet
ihrerseits ihn aufzurütteln, sie thut alles mögliche, was nur ein edles Weib
thun kann, einen Mann zu ermutigen, zu begeistern. Oblomow ist nun vor
die Pflicht gestellt, nicht etwa zu arbeiten, nein, denn sein und ihr Vermögen
kann sie beide der Geldsorge entheben, sondern nur die unumgänglichen Vor¬
kehrungen für die Heirat zu treffen, bei den Behörden vorzusprechen, sein
Gut in bessere Hände zu geben und dergleichen Dinge mehr. Auch dies aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/440>, abgerufen am 15.01.2025.