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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die Handwerker der Poesie.

Fremden nicht, der von außen hereinschaut, und wie lückenhaft muß bei aller
beabsichtigten Vollständigkeit eine Kenntnis bleiben, die längstens in Monaten
erworben wird, um sogleich verwertet zu werden. Das Auge fängt an, einseitig
zu sehen, was es sehen soll, und der Schilderer malt Zustände, nicht wie sie sind,
sondern wie er meint, daß er sie gesehen habe. Wollte man ihm glauben, so
gäbe es nichts Gutes und Schönes neben dem Bösen und Häßlichen.

Mit dieser verkehrten Arbeitsweise hängt die Dürftigkeit der Handlung zu¬
sammen und die überwuchernde Schilderung. Die Sucht nach Lebenswahrheit
führt ihn zur Aufnahme der gleich giltigsten, unnützesten Details, mit denen er
seine Schilderung umso lieber überladet, je widerwärtiger und langweiliger sie
sind. In der Absicht, seinen Leser durch die Last des Beweisstoffes zu er¬
drücken, überhäuft er ihn mit Zeug, das nichts beweist und ihn durch seine
Langeweile erdrückt. Diese naturwahren Details erdrücken aber weiter die
künstlerische Form, das lebendige Interesse und die Entwicklung des seelischen
Lebens, dem sie dienen sollen. Es ist offenbar, wie viel handwerksmäßiges
Treiben in dieser methodischen Arbeitsweise steckt, die zu einer sehr geschickten,
vielleicht staunenswert raffinirten Technik, aber nie zu wahrem poetischen Schaffen
verhelfen kann. Der alte Goethe hat auch hierfür seinen Spruch:


Das ist eine von den alten Sünden,
Sie meinen: Rechnen, das sei Erfinden.

Ein schönes Beispiel der echt dichterischen Weise, die immer wachsen und
ausreifen läßt, giebt ein andrer Realist der neuesten Literatur: Iwan Turgeuiew.
Er behauptete, unglaublich faul zu sein, und schrieb nur, wenn er mußte, das
heißt wenn ihm die Gestalten seiner Phantasie keine Ruhe mehr ließen. Nach
Vodenstedts Erzählung schrieb er "nie unter dem frischen Eindrucke des Erlebten
und zeichnete seine Bilder nicht unmittelbar nach der Natur, auch nicht Zug
für Zug aus der Erinnerung, sondern wie sie ihm aus verklärender Ferne am
wirksamsten schienen." Er selbst sagt von sich, recht im Gegensatz zu Zola:
"Ich bin, so lauge ich schriftstellerisch arbeite, niemals von einer Idee, sondern
stets von Bildern ausgegangen." Und gegen die schildernde Kleinkrämerei be¬
merkt er: "Wer im Kunstwerk alle Details wiedergeben will, der hat sein Spiel
von vornherein verloren. Es kommt darauf an, lediglich die charakteristischen
Züge festzuhalten. Darin vor allem offenbart sich Talent und Schaffenskraft."
Und Tnrgeniew vereinte in echt künstlerischer Weise mit charakteristisch treuer
Kleinzeichnung die Kraft der lebendigsten individuellsten Menschenschöpfung.

Die realistische Technik hat der zahmere deutsche Moderoman mit den fort¬
geschrittenen Franzosen gemein. Auch die Fehler, die dort drohten. Waren
jene schon mehr Beobachter als Dichter, allerdings scharfe Beobachter, die von
außen her auch ins Innere Vordringen, so bleibt die Beobachtung dieser im
Äußern stecken. Es sind Leute mit einem scharfen Blick für Äußerlichkeiten,
leichter, schneller Auffassung der Verhältnisse, leidlicher Welterfahrung, welt-


Grenzbvten IV. 188S. 5
Die Handwerker der Poesie.

Fremden nicht, der von außen hereinschaut, und wie lückenhaft muß bei aller
beabsichtigten Vollständigkeit eine Kenntnis bleiben, die längstens in Monaten
erworben wird, um sogleich verwertet zu werden. Das Auge fängt an, einseitig
zu sehen, was es sehen soll, und der Schilderer malt Zustände, nicht wie sie sind,
sondern wie er meint, daß er sie gesehen habe. Wollte man ihm glauben, so
gäbe es nichts Gutes und Schönes neben dem Bösen und Häßlichen.

Mit dieser verkehrten Arbeitsweise hängt die Dürftigkeit der Handlung zu¬
sammen und die überwuchernde Schilderung. Die Sucht nach Lebenswahrheit
führt ihn zur Aufnahme der gleich giltigsten, unnützesten Details, mit denen er
seine Schilderung umso lieber überladet, je widerwärtiger und langweiliger sie
sind. In der Absicht, seinen Leser durch die Last des Beweisstoffes zu er¬
drücken, überhäuft er ihn mit Zeug, das nichts beweist und ihn durch seine
Langeweile erdrückt. Diese naturwahren Details erdrücken aber weiter die
künstlerische Form, das lebendige Interesse und die Entwicklung des seelischen
Lebens, dem sie dienen sollen. Es ist offenbar, wie viel handwerksmäßiges
Treiben in dieser methodischen Arbeitsweise steckt, die zu einer sehr geschickten,
vielleicht staunenswert raffinirten Technik, aber nie zu wahrem poetischen Schaffen
verhelfen kann. Der alte Goethe hat auch hierfür seinen Spruch:


Das ist eine von den alten Sünden,
Sie meinen: Rechnen, das sei Erfinden.

Ein schönes Beispiel der echt dichterischen Weise, die immer wachsen und
ausreifen läßt, giebt ein andrer Realist der neuesten Literatur: Iwan Turgeuiew.
Er behauptete, unglaublich faul zu sein, und schrieb nur, wenn er mußte, das
heißt wenn ihm die Gestalten seiner Phantasie keine Ruhe mehr ließen. Nach
Vodenstedts Erzählung schrieb er „nie unter dem frischen Eindrucke des Erlebten
und zeichnete seine Bilder nicht unmittelbar nach der Natur, auch nicht Zug
für Zug aus der Erinnerung, sondern wie sie ihm aus verklärender Ferne am
wirksamsten schienen." Er selbst sagt von sich, recht im Gegensatz zu Zola:
„Ich bin, so lauge ich schriftstellerisch arbeite, niemals von einer Idee, sondern
stets von Bildern ausgegangen." Und gegen die schildernde Kleinkrämerei be¬
merkt er: „Wer im Kunstwerk alle Details wiedergeben will, der hat sein Spiel
von vornherein verloren. Es kommt darauf an, lediglich die charakteristischen
Züge festzuhalten. Darin vor allem offenbart sich Talent und Schaffenskraft."
Und Tnrgeniew vereinte in echt künstlerischer Weise mit charakteristisch treuer
Kleinzeichnung die Kraft der lebendigsten individuellsten Menschenschöpfung.

Die realistische Technik hat der zahmere deutsche Moderoman mit den fort¬
geschrittenen Franzosen gemein. Auch die Fehler, die dort drohten. Waren
jene schon mehr Beobachter als Dichter, allerdings scharfe Beobachter, die von
außen her auch ins Innere Vordringen, so bleibt die Beobachtung dieser im
Äußern stecken. Es sind Leute mit einem scharfen Blick für Äußerlichkeiten,
leichter, schneller Auffassung der Verhältnisse, leidlicher Welterfahrung, welt-


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[0041] Die Handwerker der Poesie. Fremden nicht, der von außen hereinschaut, und wie lückenhaft muß bei aller beabsichtigten Vollständigkeit eine Kenntnis bleiben, die längstens in Monaten erworben wird, um sogleich verwertet zu werden. Das Auge fängt an, einseitig zu sehen, was es sehen soll, und der Schilderer malt Zustände, nicht wie sie sind, sondern wie er meint, daß er sie gesehen habe. Wollte man ihm glauben, so gäbe es nichts Gutes und Schönes neben dem Bösen und Häßlichen. Mit dieser verkehrten Arbeitsweise hängt die Dürftigkeit der Handlung zu¬ sammen und die überwuchernde Schilderung. Die Sucht nach Lebenswahrheit führt ihn zur Aufnahme der gleich giltigsten, unnützesten Details, mit denen er seine Schilderung umso lieber überladet, je widerwärtiger und langweiliger sie sind. In der Absicht, seinen Leser durch die Last des Beweisstoffes zu er¬ drücken, überhäuft er ihn mit Zeug, das nichts beweist und ihn durch seine Langeweile erdrückt. Diese naturwahren Details erdrücken aber weiter die künstlerische Form, das lebendige Interesse und die Entwicklung des seelischen Lebens, dem sie dienen sollen. Es ist offenbar, wie viel handwerksmäßiges Treiben in dieser methodischen Arbeitsweise steckt, die zu einer sehr geschickten, vielleicht staunenswert raffinirten Technik, aber nie zu wahrem poetischen Schaffen verhelfen kann. Der alte Goethe hat auch hierfür seinen Spruch: Das ist eine von den alten Sünden, Sie meinen: Rechnen, das sei Erfinden. Ein schönes Beispiel der echt dichterischen Weise, die immer wachsen und ausreifen läßt, giebt ein andrer Realist der neuesten Literatur: Iwan Turgeuiew. Er behauptete, unglaublich faul zu sein, und schrieb nur, wenn er mußte, das heißt wenn ihm die Gestalten seiner Phantasie keine Ruhe mehr ließen. Nach Vodenstedts Erzählung schrieb er „nie unter dem frischen Eindrucke des Erlebten und zeichnete seine Bilder nicht unmittelbar nach der Natur, auch nicht Zug für Zug aus der Erinnerung, sondern wie sie ihm aus verklärender Ferne am wirksamsten schienen." Er selbst sagt von sich, recht im Gegensatz zu Zola: „Ich bin, so lauge ich schriftstellerisch arbeite, niemals von einer Idee, sondern stets von Bildern ausgegangen." Und gegen die schildernde Kleinkrämerei be¬ merkt er: „Wer im Kunstwerk alle Details wiedergeben will, der hat sein Spiel von vornherein verloren. Es kommt darauf an, lediglich die charakteristischen Züge festzuhalten. Darin vor allem offenbart sich Talent und Schaffenskraft." Und Tnrgeniew vereinte in echt künstlerischer Weise mit charakteristisch treuer Kleinzeichnung die Kraft der lebendigsten individuellsten Menschenschöpfung. Die realistische Technik hat der zahmere deutsche Moderoman mit den fort¬ geschrittenen Franzosen gemein. Auch die Fehler, die dort drohten. Waren jene schon mehr Beobachter als Dichter, allerdings scharfe Beobachter, die von außen her auch ins Innere Vordringen, so bleibt die Beobachtung dieser im Äußern stecken. Es sind Leute mit einem scharfen Blick für Äußerlichkeiten, leichter, schneller Auffassung der Verhältnisse, leidlicher Welterfahrung, welt- Grenzbvten IV. 188S. 5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/41>, abgerufen am 15.01.2025.