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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die Handwerker der Poesie.

haben an Reminiscenzen ihre helle Freude. Aber diese Dichter hören nicht, was
Goethe sagt:


Glaube nur gar und ganz,
Mädchen, laß deine Bein' in Ruh:
Es gehört mehr zum Tanz
Als rote Schuh.

Wie sehr der Zug der realistischen Technik zur Überschätzung und Herrschaft
der Mache und der Zerstörung des innern poetischen Lebens drängt, beweist
die Entwicklung des neuern französischen Romans, beweist vor allem der theore¬
tische und praktische Chorführer des fortgeschrittensten Naturalismus, Emil Zola,
dem man bei alledem dichterische Kraft nicht absprechen kann. Er hat die reali¬
stische Technik in Methode gebracht. Zur exakt wissenschaftlichen Darstellung
physiologisch-psychologischer Vorgänge will er den Roman machen. Auf die
wissenschaftliche Genauigkeit der Darstellung bis auf die geringsten Einzelheiten
kommt ihm alles an. Daher die Sucht nach echten Lebcusdvkumentcn. Nur
was an Ort und Stelle gesehen, gesammelt und den Formen der Wirklichkeit
peinlich genau nachgebildet ist, hat Wert. Dies Streben nach unverhüllter,
photographisch getreuer Wiedergabe des Lebens bis in seine kleinsten, schmierigsten
Winkel hinein verstrickt den Erfinder des "experimentalen" Romans in schwere
künstlerische Fehler.

Durchaus kunstwidrig ist erstens seine Arbeitsweise. Seine Werke sind
nicht Erzeugnisse eines freiwilligen, frisch auellendeu Schaffens, dessen Gestalten
aus dein Schatze reicher früherer Erfahrungen in unbewußter Assoziation zu¬
sammenschießen. Dem anstoßgebendcn Zufall und der Selbstbestimmung des
künstlerischen Dranges läßt er nicht Raum, er wartet nicht, bis Stimmungen
und Ideen sich aufdrängen: er kommandirt, zwingt und leitet seine Phantasie,
wohin er sie haben will. Das erste ist, nach seinen eignen Bekenntnissen, der
Entschluß, über ein bestimmtes soziales Thema, etwa über die Arbeiterfrage,
einen Roman zu schreiben. Das zweite, daß er die Orte und Verhältnisse
studirt, innerhalb derer er spielen soll. Wochen und Monate lang befährt er
Bergwerke, besichtigt Fabriken, Arbeiterwohnungen, studirt Maschinen und ver¬
tieft sich in statistische Angaben über Lohn, Leben und Sitten der Arbeiter.
Das alles wird in Heften sorgfältig gesammelt. Sehr spät erst steigen ihm
ans dein Chaos von Beobachtungen, Zahlen, Thatsachen und Gedanken Ge¬
stalten auf, die zu Trägern der Geschichte werden sollen, und noch später, oft
zum Verzweifeln spät, die Hauptentscheidungspunkte der Handlung. Wie un-
künstlerisch das alles ist, leuchtet ein. Dies mühsame Studiren mit vorgefaßten
Plänen paßt für wissenschaftliche Studien eines Kriminalisten, Nationalökonomen
oder Sozialpolitiken, nicht für frisches, freies Schauen und absichtsloses Er¬
leben, wie es der Dichter braucht. So wissenschaftlich es sich anläßt, so un-
vollkommen ist es doch; lebendiges, tiefes Gefühl der Zustände giebt es dem


Die Handwerker der Poesie.

haben an Reminiscenzen ihre helle Freude. Aber diese Dichter hören nicht, was
Goethe sagt:


Glaube nur gar und ganz,
Mädchen, laß deine Bein' in Ruh:
Es gehört mehr zum Tanz
Als rote Schuh.

Wie sehr der Zug der realistischen Technik zur Überschätzung und Herrschaft
der Mache und der Zerstörung des innern poetischen Lebens drängt, beweist
die Entwicklung des neuern französischen Romans, beweist vor allem der theore¬
tische und praktische Chorführer des fortgeschrittensten Naturalismus, Emil Zola,
dem man bei alledem dichterische Kraft nicht absprechen kann. Er hat die reali¬
stische Technik in Methode gebracht. Zur exakt wissenschaftlichen Darstellung
physiologisch-psychologischer Vorgänge will er den Roman machen. Auf die
wissenschaftliche Genauigkeit der Darstellung bis auf die geringsten Einzelheiten
kommt ihm alles an. Daher die Sucht nach echten Lebcusdvkumentcn. Nur
was an Ort und Stelle gesehen, gesammelt und den Formen der Wirklichkeit
peinlich genau nachgebildet ist, hat Wert. Dies Streben nach unverhüllter,
photographisch getreuer Wiedergabe des Lebens bis in seine kleinsten, schmierigsten
Winkel hinein verstrickt den Erfinder des „experimentalen" Romans in schwere
künstlerische Fehler.

Durchaus kunstwidrig ist erstens seine Arbeitsweise. Seine Werke sind
nicht Erzeugnisse eines freiwilligen, frisch auellendeu Schaffens, dessen Gestalten
aus dein Schatze reicher früherer Erfahrungen in unbewußter Assoziation zu¬
sammenschießen. Dem anstoßgebendcn Zufall und der Selbstbestimmung des
künstlerischen Dranges läßt er nicht Raum, er wartet nicht, bis Stimmungen
und Ideen sich aufdrängen: er kommandirt, zwingt und leitet seine Phantasie,
wohin er sie haben will. Das erste ist, nach seinen eignen Bekenntnissen, der
Entschluß, über ein bestimmtes soziales Thema, etwa über die Arbeiterfrage,
einen Roman zu schreiben. Das zweite, daß er die Orte und Verhältnisse
studirt, innerhalb derer er spielen soll. Wochen und Monate lang befährt er
Bergwerke, besichtigt Fabriken, Arbeiterwohnungen, studirt Maschinen und ver¬
tieft sich in statistische Angaben über Lohn, Leben und Sitten der Arbeiter.
Das alles wird in Heften sorgfältig gesammelt. Sehr spät erst steigen ihm
ans dein Chaos von Beobachtungen, Zahlen, Thatsachen und Gedanken Ge¬
stalten auf, die zu Trägern der Geschichte werden sollen, und noch später, oft
zum Verzweifeln spät, die Hauptentscheidungspunkte der Handlung. Wie un-
künstlerisch das alles ist, leuchtet ein. Dies mühsame Studiren mit vorgefaßten
Plänen paßt für wissenschaftliche Studien eines Kriminalisten, Nationalökonomen
oder Sozialpolitiken, nicht für frisches, freies Schauen und absichtsloses Er¬
leben, wie es der Dichter braucht. So wissenschaftlich es sich anläßt, so un-
vollkommen ist es doch; lebendiges, tiefes Gefühl der Zustände giebt es dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/40>, abgerufen am 15.01.2025.