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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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zur Last fallen, weil er es an der nötigen "Bearbeitung" der Schöffen habe
fehlen lassen. Wahrlich eine beneidenswerte Lage des Vorsitzenden! Wir würden
diese Anschauung hier nicht wiedergeben, wenn sie nicht leider vielfach in den
Kreisen derjenigen Juristen, welche nicht unmittelbar mit dem Schöffengerichte
zu thun haben, ausgesprochen wurde. Mit derartigen Grundsätzen wird aber
dem ganzen Institute das Todesurteil gesprochen, denn wenn das Urteil des
Schöffen vom Vorsitzenden in dieser Weise beeinträchtigt wird, kann der Vor¬
sitzende besser als Eiuzelrichter fungiren; das Urteil wird dann in materieller
Beziehung nur vom Vorsitzenden, nicht von den Schöffen gefällt.

Viel eher wird derjenige Schöffenrichtcr seine Schuldigkeit thun, welcher
bei der Beratung mit den Schöffen den Fall in thatsächlicher und rechtlicher
Beziehung durchspricht und denselben etwaige Irrtümer aufklärt; die Verant¬
wortung für die dann erfolgende Abstimmung hat nicht er zu tragen. Muß
aber dem Schöffenrichter nicht die Frende an seinem Berufe empfindlich beein¬
trächtigt werden, wenn er Urteile verkünden und begründen musz, welche der
klaren Lage der Sache oder ausdrücklichen Gesetzen völlig widersprechen? So
kam bei Verhandlung einer Privatklagesache der Fall vor, daß die Schöffen
die Bestimmung des Z 190 des Strafgesetzbuches, wonach der Beweis der
Wahrheit ausgeschlossen sein soll, wenn der Beleidigte wegen dieser behaupteten
Handlung rechtskräftig freigesprochen worden ist, nicht anerkannten, vielmehr
darauf bestanden, daß darüber nochmals Beweis erhoben werde.

Daß für den Richter das Schöffengericht die unangenehmste und aufreibendste
Thätigkeit ist, ist eine namentlich bei größern Amtsgerichten, wo einer der Richter
ausschließlich mit Bearbeitung der Schöffeusachen beauftragt ist, vielfach hervor¬
getretene Erscheinung; niemand hat diese Beschäftigung gern längere Zeit.

Leider findet der Schöffenrichter unter seinen Beisitzern zu häufig Leute,
denen jedes Verständnis sür die Sache mangelt. Der Diebstahl einer gering¬
fügigen Sache erscheint ihnen überhaupt nicht strafbar, in Privatklagesachen
(Jnjurienprozessen) kann der Schöffe vom Lande sich nicht zu einer Verurteilung
entschließen, wenn seine Standesgenossen sich geschimpft haben, da man "so
etwas auf dem Lande nicht so genau nimmt." Es kommt häufig genug vor,
daß Schöffen, welche in ländlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, dem Vor¬
sitzenden rundweg erklären, die Sache sei doch so verwickelt, sie wollten die Be¬
urteilung lieber "dem Herrn Richter überlassen." Doch der Richter muß die
Form wahren, er muß beraten und abstimmen lassen; das Urteil aber, das er
auf Grund der Beratung und Abstimmung publizirt, ist lediglich sein Urteil,
er hat es diktirt, wie sich der Abgeordnete Windthorst bei der ersten Beratung
im Plenum ausdrückte, wenngleich dasselbe formell vom Schöffenkolleginm gefällt
ist- Sollte es uns Wundern, wenn die Mutter Jnstitia, welcher bereits die
Augen verbunden sind, sich auch noch die Ohren verstopfen ließe, wenn sie ge¬
nötigt wäre, der Beratung und Verkündigung eines solchen Urteils beizuwohnen?


Grenzboten IV. 1885. 47

zur Last fallen, weil er es an der nötigen „Bearbeitung" der Schöffen habe
fehlen lassen. Wahrlich eine beneidenswerte Lage des Vorsitzenden! Wir würden
diese Anschauung hier nicht wiedergeben, wenn sie nicht leider vielfach in den
Kreisen derjenigen Juristen, welche nicht unmittelbar mit dem Schöffengerichte
zu thun haben, ausgesprochen wurde. Mit derartigen Grundsätzen wird aber
dem ganzen Institute das Todesurteil gesprochen, denn wenn das Urteil des
Schöffen vom Vorsitzenden in dieser Weise beeinträchtigt wird, kann der Vor¬
sitzende besser als Eiuzelrichter fungiren; das Urteil wird dann in materieller
Beziehung nur vom Vorsitzenden, nicht von den Schöffen gefällt.

Viel eher wird derjenige Schöffenrichtcr seine Schuldigkeit thun, welcher
bei der Beratung mit den Schöffen den Fall in thatsächlicher und rechtlicher
Beziehung durchspricht und denselben etwaige Irrtümer aufklärt; die Verant¬
wortung für die dann erfolgende Abstimmung hat nicht er zu tragen. Muß
aber dem Schöffenrichter nicht die Frende an seinem Berufe empfindlich beein¬
trächtigt werden, wenn er Urteile verkünden und begründen musz, welche der
klaren Lage der Sache oder ausdrücklichen Gesetzen völlig widersprechen? So
kam bei Verhandlung einer Privatklagesache der Fall vor, daß die Schöffen
die Bestimmung des Z 190 des Strafgesetzbuches, wonach der Beweis der
Wahrheit ausgeschlossen sein soll, wenn der Beleidigte wegen dieser behaupteten
Handlung rechtskräftig freigesprochen worden ist, nicht anerkannten, vielmehr
darauf bestanden, daß darüber nochmals Beweis erhoben werde.

Daß für den Richter das Schöffengericht die unangenehmste und aufreibendste
Thätigkeit ist, ist eine namentlich bei größern Amtsgerichten, wo einer der Richter
ausschließlich mit Bearbeitung der Schöffeusachen beauftragt ist, vielfach hervor¬
getretene Erscheinung; niemand hat diese Beschäftigung gern längere Zeit.

Leider findet der Schöffenrichter unter seinen Beisitzern zu häufig Leute,
denen jedes Verständnis sür die Sache mangelt. Der Diebstahl einer gering¬
fügigen Sache erscheint ihnen überhaupt nicht strafbar, in Privatklagesachen
(Jnjurienprozessen) kann der Schöffe vom Lande sich nicht zu einer Verurteilung
entschließen, wenn seine Standesgenossen sich geschimpft haben, da man „so
etwas auf dem Lande nicht so genau nimmt." Es kommt häufig genug vor,
daß Schöffen, welche in ländlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, dem Vor¬
sitzenden rundweg erklären, die Sache sei doch so verwickelt, sie wollten die Be¬
urteilung lieber „dem Herrn Richter überlassen." Doch der Richter muß die
Form wahren, er muß beraten und abstimmen lassen; das Urteil aber, das er
auf Grund der Beratung und Abstimmung publizirt, ist lediglich sein Urteil,
er hat es diktirt, wie sich der Abgeordnete Windthorst bei der ersten Beratung
im Plenum ausdrückte, wenngleich dasselbe formell vom Schöffenkolleginm gefällt
ist- Sollte es uns Wundern, wenn die Mutter Jnstitia, welcher bereits die
Augen verbunden sind, sich auch noch die Ohren verstopfen ließe, wenn sie ge¬
nötigt wäre, der Beratung und Verkündigung eines solchen Urteils beizuwohnen?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/377>, abgerufen am 15.01.2025.