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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Lin Jesuit über Goethe.

Diese durchgehende leichtfertige Flüchtigkeit kommt bestens Bciumgartners
Absicht zu Hilfe, in Goethes Leben alles schief und schlecht darzustellen, als ob
dieser ihn in seinem Zvilo-Thersites vor der Göttin Victoria vorgeschaut hätte.
Die Medisance ist die große Göttin, welcher der Jesuitenpater hier opferte; galt
es doch ein gutes Wert: Goethes Ehre und Ruhm zu gründe zu richten. Wir
würden nicht fertig werden, wollten wir alle groben Verunstaltungen der Wahr¬
heit berühren; wir greifen wie in einen Lovstvpf, um die Gesinnung und die
Wahrheitsliebe des geistlichen Herrn zu kennzeichnen, wobei wir alles übergehen,
was schon in unserm 1880 erschienenen Aufsatze gerügt worden ist.

Die Goethes tiefstes Herz erregende Leidenschaft für Lili, welcher wir un¬
sterbliche Lieder verdanken, heißt S. 167 f. "ein Roman von der allergewöhn-
lichsten Sorte." Noch in der Erzählung des Greises, um von den gleichzeitigen
Briefen garnicht zu reden, tritt die Gewalt dieser Liebe so mächtig hervor, daß
nur Baumgartners bitterer Groll und grimmiger Haß eine solche Verhöhnung der
Wahrheit erklären können. Doch Goethe soll ja, ehe er nach Weimar ging, "schon
zehn Liebesrvmane durchgemacht" haben. Was mag sich Baumgartner wohl
unter "Liebesroman" denken? Sind denn alle Beziehungen Goethes zu befreun¬
deten Mädchen Liebesromane? Die Begeisterung, die "Werthers Leiden" hervor¬
riefen, soll der junge Dichter benutzt haben, "eine sentimentale Korrespondenz
mit der jungen Gräfin Auguste von Stolberg einzufädeln" (S. 168). Wir wissen,
daß die Schwester der beiden für ihn schwärmenden Grafen Stolberg, ohne ihn
zu kennen, ihn brieflich gefragt hatte, ob er glücklich sei, und seine warme Er¬
wiederung einen durch die innige Verbindung mit den Brüdern genährten Brief¬
wechsel veranlaßte. Das nennt Baumgartner einfädeln. Aber er ist einmal
ein Freund des Einfädelns und der Boraussetzung gemeiner Absichten Goethes.
So läßt er auch den jungen Dichter "mit seiner zärtlichen Bruderliebe zu Cor-
rnelia gewöhnlich die Mädchen einfädeln" (S. 289). Als ob es für ihn einer
besondern Einfädelung bedurft hätte, und nicht vielmehr alle Mädchen, die zum
Kreise der Schwester gehörten, von dem bezaubernden Jüngling hingerissen wurden!
In der Familie Gerock müßte er gleichzeitig drei Schwestern "eingefädelt" haben.
Gerade diese, mit denen er auf dem vertrautesten Fuße der Freundschaft stand,
zeigen, daß nicht bei allen Beziehungen zu Mädchen das Herz mitsprach und
ein "Liebesroman durchgemacht" wurde. Zu Maximiliane Brentano zog ihn
nur der Schmerz, sie so unglücklich zu sehen. Freilich läßt Baumgartner ihn bei
Brentano "sich als Hausfreund einschmuggeln und mit phantastischer Thorheit
und mit der Sünde spielen" (S. 108 f.). Goethes Briefe an die Laroche geben
das entgegengesetzte Bild, das Baumgartner. wenn er keine Zeit hatte, diese zu
lesen, aus ehrlichen Lebensbeschreibungen hätte schöpfen müssen; aber freilich
hätte er dann auch nicht übergehen können, daß gerade der jungen unglücklichen
Frau gegenüber Goethes Entsagungskraft, seine "Tugend", sich aufs glän¬
zendste bewährte.


Lin Jesuit über Goethe.

Diese durchgehende leichtfertige Flüchtigkeit kommt bestens Bciumgartners
Absicht zu Hilfe, in Goethes Leben alles schief und schlecht darzustellen, als ob
dieser ihn in seinem Zvilo-Thersites vor der Göttin Victoria vorgeschaut hätte.
Die Medisance ist die große Göttin, welcher der Jesuitenpater hier opferte; galt
es doch ein gutes Wert: Goethes Ehre und Ruhm zu gründe zu richten. Wir
würden nicht fertig werden, wollten wir alle groben Verunstaltungen der Wahr¬
heit berühren; wir greifen wie in einen Lovstvpf, um die Gesinnung und die
Wahrheitsliebe des geistlichen Herrn zu kennzeichnen, wobei wir alles übergehen,
was schon in unserm 1880 erschienenen Aufsatze gerügt worden ist.

Die Goethes tiefstes Herz erregende Leidenschaft für Lili, welcher wir un¬
sterbliche Lieder verdanken, heißt S. 167 f. „ein Roman von der allergewöhn-
lichsten Sorte." Noch in der Erzählung des Greises, um von den gleichzeitigen
Briefen garnicht zu reden, tritt die Gewalt dieser Liebe so mächtig hervor, daß
nur Baumgartners bitterer Groll und grimmiger Haß eine solche Verhöhnung der
Wahrheit erklären können. Doch Goethe soll ja, ehe er nach Weimar ging, „schon
zehn Liebesrvmane durchgemacht" haben. Was mag sich Baumgartner wohl
unter „Liebesroman" denken? Sind denn alle Beziehungen Goethes zu befreun¬
deten Mädchen Liebesromane? Die Begeisterung, die „Werthers Leiden" hervor¬
riefen, soll der junge Dichter benutzt haben, „eine sentimentale Korrespondenz
mit der jungen Gräfin Auguste von Stolberg einzufädeln" (S. 168). Wir wissen,
daß die Schwester der beiden für ihn schwärmenden Grafen Stolberg, ohne ihn
zu kennen, ihn brieflich gefragt hatte, ob er glücklich sei, und seine warme Er¬
wiederung einen durch die innige Verbindung mit den Brüdern genährten Brief¬
wechsel veranlaßte. Das nennt Baumgartner einfädeln. Aber er ist einmal
ein Freund des Einfädelns und der Boraussetzung gemeiner Absichten Goethes.
So läßt er auch den jungen Dichter „mit seiner zärtlichen Bruderliebe zu Cor-
rnelia gewöhnlich die Mädchen einfädeln" (S. 289). Als ob es für ihn einer
besondern Einfädelung bedurft hätte, und nicht vielmehr alle Mädchen, die zum
Kreise der Schwester gehörten, von dem bezaubernden Jüngling hingerissen wurden!
In der Familie Gerock müßte er gleichzeitig drei Schwestern „eingefädelt" haben.
Gerade diese, mit denen er auf dem vertrautesten Fuße der Freundschaft stand,
zeigen, daß nicht bei allen Beziehungen zu Mädchen das Herz mitsprach und
ein „Liebesroman durchgemacht" wurde. Zu Maximiliane Brentano zog ihn
nur der Schmerz, sie so unglücklich zu sehen. Freilich läßt Baumgartner ihn bei
Brentano „sich als Hausfreund einschmuggeln und mit phantastischer Thorheit
und mit der Sünde spielen" (S. 108 f.). Goethes Briefe an die Laroche geben
das entgegengesetzte Bild, das Baumgartner. wenn er keine Zeit hatte, diese zu
lesen, aus ehrlichen Lebensbeschreibungen hätte schöpfen müssen; aber freilich
hätte er dann auch nicht übergehen können, daß gerade der jungen unglücklichen
Frau gegenüber Goethes Entsagungskraft, seine „Tugend", sich aufs glän¬
zendste bewährte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/331>, abgerufen am 15.01.2025.