Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Neue Dramen. willen. Von der niedrigen Natur, als welche sie eben gezeichnet sind, erwarten König Karl nun, der Siegreiche, ist sein vollstes Widerspiel. Auch er ist ein Soviel zur Charakteristik der beiden Hauptgestalten und Träger der Dichtung. Neue Dramen. willen. Von der niedrigen Natur, als welche sie eben gezeichnet sind, erwarten König Karl nun, der Siegreiche, ist sein vollstes Widerspiel. Auch er ist ein Soviel zur Charakteristik der beiden Hauptgestalten und Träger der Dichtung. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196994"/> <fw type="header" place="top"> Neue Dramen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_814" prev="#ID_813"> willen. Von der niedrigen Natur, als welche sie eben gezeichnet sind, erwarten<lb/> wir nichts andres: sie mag ihren Nutzen haben. Nur wer die sittliche Idee zu<lb/> erfassen vermag, ist ein tragischer Held, und Thassilo, der sein ganzes Dasein so<lb/> ganz auf sich selbst gestellt und sich mit dem Hochgefühl des wahrhaft Starken<lb/> isolirt hatte, berührt uns aufs erschütterndste durch seinen Fall.</p><lb/> <p xml:id="ID_815"> König Karl nun, der Siegreiche, ist sein vollstes Widerspiel. Auch er ist ein<lb/> Mann ohne Furcht und Tadel: eine wahrhaft majestätische Herrschergestalt. Er<lb/> steht uicht an, in des Feindes Hause unbewacht zu schlafen; er keunt die Menschen,<lb/> weiß im voraus, was er von ihnen zu erwarten hat. Aber er ist klüger als<lb/> Thassilo; er sagt seinen Gegnern nicht Sottisen ins Gesicht. Er ist weniger per¬<lb/> sönlich, objektiver; die politischen Dinge treten ihm im Hause Thassilos in mensch¬<lb/> lich lebendiger Leidenschaft entgegen, und dies ist ihm, dem Staatsmanne, unangenehm.<lb/> Er fühlt sich uicht so wie Thassilo gleich einem Gutsherrn stolz in seinem Besitze,<lb/> sondern vorwiegend als den Verbreiter der Kultur, als den Diener seines Ideals.<lb/> Im Augenblick trägt er sich sogar mit dem Gedanken, sein Reich bei Lebzeiten<lb/> unter seine drei Söhne zu teilen, nur die oberste Negierung zu behalten. Ist<lb/> Thassilo eine beschauliche, nur in der Notwehr handelnde Natur, so ist Karl rastlos<lb/> thätig. Aber er ist uicht bloß klüger, sondern auch Weiser. Er fühlt es, daß<lb/> Staatsnotwendigkeit gar häufig mit menschlichen Sympathien in Konflikt gerät, und<lb/> seufzt manchmal wohl darüber. Er ist nicht eigenwillig wie der Herzog: er berät<lb/> sich gern und freimütig mit seinen Räten, etwa einem Eginhard. Er kann sich<lb/> selbst überwinden, wo es gilt, Frieden zu halten; er ist der wahrhaft weise Herrscher,<lb/> der uns als Karl der Große vor der sagenhaft verklärten Phantasie steht: Staats¬<lb/> mann und Politiker größten Stils und doch noch ein Mensch mit einem warmen<lb/> Herzen im Busen. Wenn Thassilo, der gänzlich unpolitische Mensch, jedwede Unter¬<lb/> haltung abbricht oder gar mit Drohungen kommt, selbst dem rohen Avaren gegen¬<lb/> über, mit dem er ein Bündnis nachträglich gegen Karl schließen will, die Würde<lb/> verliert und zugesteht: „Mit dir zu markten, fühl' ich länger mich, beim Himmel,<lb/> nicht mehr gewachsen" — so ist Karl umgekehrt ein Meister im Unterhandeln.<lb/> Wie schön gewinnt er es über sich, mit Luitberga zu sprechen, die ihn doch mit<lb/> unverhüllter Feindlichkeit aufgenommen hat! Er appellirt an ihre Weiblichkeit und<lb/> deren fricdcnstifterischen Beruf, um durch sie Thassilo zu bestimmen. Freilich ge¬<lb/> schieht es vergebens, denn sie ihrerseits kann es garnicht erwarten, daß ihr Gatte<lb/> losschlägt. Und dann die Unterhandlung mit Thassilo selbst: Karl bleibt immer<lb/> ruhig; jemehr Thassilo sich ereifert und schließlich zügellos seineu Haß offenbart,<lb/> um so besonnener bleibt jener. Und der ganze Charakter beider offenbart sich in<lb/> dem Geständnis Karls auf Thassilos kurz angebundene Weigerung, ihm Heeres-<lb/> folge zu leisten: „Offen gestanden, hab' ich's so erwartet"; und Thassilo, der sonst<lb/> seine Feinde intuitio schon nach ihrem Gesicht erkennt, ist ganz merkwürdig ver¬<lb/> wundert darüber, daß Karl so etwas vorausgesehen hat! Er begreift das garnicht<lb/> und wirfts ihm dann noch höhnisch an den Kopf.</p><lb/> <p xml:id="ID_816" next="#ID_817"> Soviel zur Charakteristik der beiden Hauptgestalten und Träger der Dichtung.<lb/> Mit großem Kunstsinn hat Saar aber auch die audern Gestalten zu einer Wohl-<lb/> gegliederten, sich gegenseitig erklärenden Gruppe geordnet. Es hat jede Figur auch<lb/> ihre Aufgabe, in der Einheit des ganzen Schauspiels mitzuwirken, wie ein kunst¬<lb/> voller Maler jeder Gestalt in seinen Gemälden eine eigne koloristische Wirkung<lb/> zuerteilt. Wie wirkungsvoll dient die Erscheinung des nun dem Franken dienenden<lb/> Sachsenherzogs Wittntind, die Macht Karls ins rechte Licht zu setzen! Denn wenn<lb/> der trotzigste Gegner nunmehr sich Karl unterworfen hat, wie wenig Aussicht hat</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0260]
Neue Dramen.
willen. Von der niedrigen Natur, als welche sie eben gezeichnet sind, erwarten
wir nichts andres: sie mag ihren Nutzen haben. Nur wer die sittliche Idee zu
erfassen vermag, ist ein tragischer Held, und Thassilo, der sein ganzes Dasein so
ganz auf sich selbst gestellt und sich mit dem Hochgefühl des wahrhaft Starken
isolirt hatte, berührt uns aufs erschütterndste durch seinen Fall.
König Karl nun, der Siegreiche, ist sein vollstes Widerspiel. Auch er ist ein
Mann ohne Furcht und Tadel: eine wahrhaft majestätische Herrschergestalt. Er
steht uicht an, in des Feindes Hause unbewacht zu schlafen; er keunt die Menschen,
weiß im voraus, was er von ihnen zu erwarten hat. Aber er ist klüger als
Thassilo; er sagt seinen Gegnern nicht Sottisen ins Gesicht. Er ist weniger per¬
sönlich, objektiver; die politischen Dinge treten ihm im Hause Thassilos in mensch¬
lich lebendiger Leidenschaft entgegen, und dies ist ihm, dem Staatsmanne, unangenehm.
Er fühlt sich uicht so wie Thassilo gleich einem Gutsherrn stolz in seinem Besitze,
sondern vorwiegend als den Verbreiter der Kultur, als den Diener seines Ideals.
Im Augenblick trägt er sich sogar mit dem Gedanken, sein Reich bei Lebzeiten
unter seine drei Söhne zu teilen, nur die oberste Negierung zu behalten. Ist
Thassilo eine beschauliche, nur in der Notwehr handelnde Natur, so ist Karl rastlos
thätig. Aber er ist uicht bloß klüger, sondern auch Weiser. Er fühlt es, daß
Staatsnotwendigkeit gar häufig mit menschlichen Sympathien in Konflikt gerät, und
seufzt manchmal wohl darüber. Er ist nicht eigenwillig wie der Herzog: er berät
sich gern und freimütig mit seinen Räten, etwa einem Eginhard. Er kann sich
selbst überwinden, wo es gilt, Frieden zu halten; er ist der wahrhaft weise Herrscher,
der uns als Karl der Große vor der sagenhaft verklärten Phantasie steht: Staats¬
mann und Politiker größten Stils und doch noch ein Mensch mit einem warmen
Herzen im Busen. Wenn Thassilo, der gänzlich unpolitische Mensch, jedwede Unter¬
haltung abbricht oder gar mit Drohungen kommt, selbst dem rohen Avaren gegen¬
über, mit dem er ein Bündnis nachträglich gegen Karl schließen will, die Würde
verliert und zugesteht: „Mit dir zu markten, fühl' ich länger mich, beim Himmel,
nicht mehr gewachsen" — so ist Karl umgekehrt ein Meister im Unterhandeln.
Wie schön gewinnt er es über sich, mit Luitberga zu sprechen, die ihn doch mit
unverhüllter Feindlichkeit aufgenommen hat! Er appellirt an ihre Weiblichkeit und
deren fricdcnstifterischen Beruf, um durch sie Thassilo zu bestimmen. Freilich ge¬
schieht es vergebens, denn sie ihrerseits kann es garnicht erwarten, daß ihr Gatte
losschlägt. Und dann die Unterhandlung mit Thassilo selbst: Karl bleibt immer
ruhig; jemehr Thassilo sich ereifert und schließlich zügellos seineu Haß offenbart,
um so besonnener bleibt jener. Und der ganze Charakter beider offenbart sich in
dem Geständnis Karls auf Thassilos kurz angebundene Weigerung, ihm Heeres-
folge zu leisten: „Offen gestanden, hab' ich's so erwartet"; und Thassilo, der sonst
seine Feinde intuitio schon nach ihrem Gesicht erkennt, ist ganz merkwürdig ver¬
wundert darüber, daß Karl so etwas vorausgesehen hat! Er begreift das garnicht
und wirfts ihm dann noch höhnisch an den Kopf.
Soviel zur Charakteristik der beiden Hauptgestalten und Träger der Dichtung.
Mit großem Kunstsinn hat Saar aber auch die audern Gestalten zu einer Wohl-
gegliederten, sich gegenseitig erklärenden Gruppe geordnet. Es hat jede Figur auch
ihre Aufgabe, in der Einheit des ganzen Schauspiels mitzuwirken, wie ein kunst¬
voller Maler jeder Gestalt in seinen Gemälden eine eigne koloristische Wirkung
zuerteilt. Wie wirkungsvoll dient die Erscheinung des nun dem Franken dienenden
Sachsenherzogs Wittntind, die Macht Karls ins rechte Licht zu setzen! Denn wenn
der trotzigste Gegner nunmehr sich Karl unterworfen hat, wie wenig Aussicht hat
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