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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Zur Geschichte des gelehrton Unterrichts.

und den Schülern Unterricht in der "Poesie oder ürts orntoris." erteilt wird,
womit die Einführung neuer Lehrbücher verbunden war. Bemerkenswert ist,
daß Leipzig mit der Zahl der Ausgaben neuer Schulbücher für den lateinische"
Schulunterricht weit hervorragt. In Norddeutschland wirken die Brüder vom
gemeinsamen Leben eifrig für die Ausbreitung der klassischen Studien, ihre
Schulordnung wurde n. ni. auch in Zwickau eingeführt.

Erasmus, das Haupt des deutschen Humanismus, war in dieser Zeit auf
dem Höhepunkte seines Ruhmes. Da vollzog sich mit dem Jahre 1520 ein
jäher Umschwung, des Erasmus Leben nahm einen wahrhaft tragischen Aus¬
gang, an seine Stelle tritt Luther in den Vordergrund der Ereignisse, die
Humanisten, namentlich die jüngeren, werden seine treuesten Bundesgenossen.
Die Enttäuschung blieb freilich nicht aus. Luthers Schreiben an den christ¬
lichen Adel deutscher Nation enthielt die schärfsten Angriffe auf die Universi¬
täten, "die eigentlichen Burgen des Teufels auf Erden." Melanchthon ging
vollständig ans Luthers Ton ein, und die Masse ultraevangelischer Prediger
endlich, wie z. V. Karlstadt, verwarfen nicht nur den vorhandenen, sondern
überhaupt jeden gelehrten Unterricht. Bereits 1524 machen sich die Wirkungen
des Kampfes geltend, die Universitäten und Schulen veröden, den kirchlichen
und politischen Streitfragen, nicht mehr der Poesie, ist das alleinige Interesse
des Tages gewidmet. "Der Humanismus, urteilt Paulsen, ging an dem
Bündnisse mit der Reformation zu gründe." Während 1620 Melanchthon vor
über 600 Zuhörern las, hörten im Jahre 1524 seine Vorlesung über De-
mosthenes noch vier. Der Verfall traf lutherische wie streng katholische Uni¬
versitäten gleichmäßig. In Leipzig waren immatrikulirt worden 1617 387,
1623 126, 1627 126, in Wittenberg für die entsprechenden Jahre 242, 198,
73, in Erfurt 316, 16, 35, in Köln 287, 130, 72, in Wien 1617 über 300,
in den Jahren 1627 und 1628 zusammen 20 bis 30. Ebenso sehr herabge-
sunken war die Zahl der Promotionen. Doch konnte die Reformation, wenn
sie Dauer und Bildung gewinnen sollte, der Wissenschaft und besonders der
Sprachen nicht entbehren. Melanchthon war es, der die protestantischen
Universitäten neu organisirte und den Plan für die gelehrten Schulen entwarf,
welcher in den Grundzügen bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
geblieben ist. Überall wurde sein Rat hierzu eingefordert, die eingestellten Dis¬
putationen und Promotionen auf den Universitäten werden nach und nach
wiederhergestellt, das Studium des Griechischen wird stärker betont, zur Er¬
leichterung der Ärmeren werden Stipendiatenkouvitte neu eingerichtet.

Aber nicht mehr die Kirche, der Staat nimmt sich jetzt des gesamten Unter¬
richtswesens an. Luther hatte bereits in der Schrift an die Ratsherren der
deutschen Städte die weltliche Obrigkeit an diese ihre Pflicht erinnert. In zwei
Absätzen hat sich die Aufrichtung des protestantischen Schulwesens vollzogen;
in dem ersten, bis zum Ende der dreißiger Jahre reichenden sind es einzelne


Zur Geschichte des gelehrton Unterrichts.

und den Schülern Unterricht in der „Poesie oder ürts orntoris." erteilt wird,
womit die Einführung neuer Lehrbücher verbunden war. Bemerkenswert ist,
daß Leipzig mit der Zahl der Ausgaben neuer Schulbücher für den lateinische»
Schulunterricht weit hervorragt. In Norddeutschland wirken die Brüder vom
gemeinsamen Leben eifrig für die Ausbreitung der klassischen Studien, ihre
Schulordnung wurde n. ni. auch in Zwickau eingeführt.

Erasmus, das Haupt des deutschen Humanismus, war in dieser Zeit auf
dem Höhepunkte seines Ruhmes. Da vollzog sich mit dem Jahre 1520 ein
jäher Umschwung, des Erasmus Leben nahm einen wahrhaft tragischen Aus¬
gang, an seine Stelle tritt Luther in den Vordergrund der Ereignisse, die
Humanisten, namentlich die jüngeren, werden seine treuesten Bundesgenossen.
Die Enttäuschung blieb freilich nicht aus. Luthers Schreiben an den christ¬
lichen Adel deutscher Nation enthielt die schärfsten Angriffe auf die Universi¬
täten, „die eigentlichen Burgen des Teufels auf Erden." Melanchthon ging
vollständig ans Luthers Ton ein, und die Masse ultraevangelischer Prediger
endlich, wie z. V. Karlstadt, verwarfen nicht nur den vorhandenen, sondern
überhaupt jeden gelehrten Unterricht. Bereits 1524 machen sich die Wirkungen
des Kampfes geltend, die Universitäten und Schulen veröden, den kirchlichen
und politischen Streitfragen, nicht mehr der Poesie, ist das alleinige Interesse
des Tages gewidmet. „Der Humanismus, urteilt Paulsen, ging an dem
Bündnisse mit der Reformation zu gründe." Während 1620 Melanchthon vor
über 600 Zuhörern las, hörten im Jahre 1524 seine Vorlesung über De-
mosthenes noch vier. Der Verfall traf lutherische wie streng katholische Uni¬
versitäten gleichmäßig. In Leipzig waren immatrikulirt worden 1617 387,
1623 126, 1627 126, in Wittenberg für die entsprechenden Jahre 242, 198,
73, in Erfurt 316, 16, 35, in Köln 287, 130, 72, in Wien 1617 über 300,
in den Jahren 1627 und 1628 zusammen 20 bis 30. Ebenso sehr herabge-
sunken war die Zahl der Promotionen. Doch konnte die Reformation, wenn
sie Dauer und Bildung gewinnen sollte, der Wissenschaft und besonders der
Sprachen nicht entbehren. Melanchthon war es, der die protestantischen
Universitäten neu organisirte und den Plan für die gelehrten Schulen entwarf,
welcher in den Grundzügen bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
geblieben ist. Überall wurde sein Rat hierzu eingefordert, die eingestellten Dis¬
putationen und Promotionen auf den Universitäten werden nach und nach
wiederhergestellt, das Studium des Griechischen wird stärker betont, zur Er¬
leichterung der Ärmeren werden Stipendiatenkouvitte neu eingerichtet.

Aber nicht mehr die Kirche, der Staat nimmt sich jetzt des gesamten Unter¬
richtswesens an. Luther hatte bereits in der Schrift an die Ratsherren der
deutschen Städte die weltliche Obrigkeit an diese ihre Pflicht erinnert. In zwei
Absätzen hat sich die Aufrichtung des protestantischen Schulwesens vollzogen;
in dem ersten, bis zum Ende der dreißiger Jahre reichenden sind es einzelne


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[0250] Zur Geschichte des gelehrton Unterrichts. und den Schülern Unterricht in der „Poesie oder ürts orntoris." erteilt wird, womit die Einführung neuer Lehrbücher verbunden war. Bemerkenswert ist, daß Leipzig mit der Zahl der Ausgaben neuer Schulbücher für den lateinische» Schulunterricht weit hervorragt. In Norddeutschland wirken die Brüder vom gemeinsamen Leben eifrig für die Ausbreitung der klassischen Studien, ihre Schulordnung wurde n. ni. auch in Zwickau eingeführt. Erasmus, das Haupt des deutschen Humanismus, war in dieser Zeit auf dem Höhepunkte seines Ruhmes. Da vollzog sich mit dem Jahre 1520 ein jäher Umschwung, des Erasmus Leben nahm einen wahrhaft tragischen Aus¬ gang, an seine Stelle tritt Luther in den Vordergrund der Ereignisse, die Humanisten, namentlich die jüngeren, werden seine treuesten Bundesgenossen. Die Enttäuschung blieb freilich nicht aus. Luthers Schreiben an den christ¬ lichen Adel deutscher Nation enthielt die schärfsten Angriffe auf die Universi¬ täten, „die eigentlichen Burgen des Teufels auf Erden." Melanchthon ging vollständig ans Luthers Ton ein, und die Masse ultraevangelischer Prediger endlich, wie z. V. Karlstadt, verwarfen nicht nur den vorhandenen, sondern überhaupt jeden gelehrten Unterricht. Bereits 1524 machen sich die Wirkungen des Kampfes geltend, die Universitäten und Schulen veröden, den kirchlichen und politischen Streitfragen, nicht mehr der Poesie, ist das alleinige Interesse des Tages gewidmet. „Der Humanismus, urteilt Paulsen, ging an dem Bündnisse mit der Reformation zu gründe." Während 1620 Melanchthon vor über 600 Zuhörern las, hörten im Jahre 1524 seine Vorlesung über De- mosthenes noch vier. Der Verfall traf lutherische wie streng katholische Uni¬ versitäten gleichmäßig. In Leipzig waren immatrikulirt worden 1617 387, 1623 126, 1627 126, in Wittenberg für die entsprechenden Jahre 242, 198, 73, in Erfurt 316, 16, 35, in Köln 287, 130, 72, in Wien 1617 über 300, in den Jahren 1627 und 1628 zusammen 20 bis 30. Ebenso sehr herabge- sunken war die Zahl der Promotionen. Doch konnte die Reformation, wenn sie Dauer und Bildung gewinnen sollte, der Wissenschaft und besonders der Sprachen nicht entbehren. Melanchthon war es, der die protestantischen Universitäten neu organisirte und den Plan für die gelehrten Schulen entwarf, welcher in den Grundzügen bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts geblieben ist. Überall wurde sein Rat hierzu eingefordert, die eingestellten Dis¬ putationen und Promotionen auf den Universitäten werden nach und nach wiederhergestellt, das Studium des Griechischen wird stärker betont, zur Er¬ leichterung der Ärmeren werden Stipendiatenkouvitte neu eingerichtet. Aber nicht mehr die Kirche, der Staat nimmt sich jetzt des gesamten Unter¬ richtswesens an. Luther hatte bereits in der Schrift an die Ratsherren der deutschen Städte die weltliche Obrigkeit an diese ihre Pflicht erinnert. In zwei Absätzen hat sich die Aufrichtung des protestantischen Schulwesens vollzogen; in dem ersten, bis zum Ende der dreißiger Jahre reichenden sind es einzelne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/250>, abgerufen am 15.01.2025.