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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dein Stilfsor Joch.

Harald war über diese burschikose Art etwas verletzt und wollte, indem er
bemerkte, daß Vroni seine Schülerin sei, dem Gespräche eine andre Wendung
geben.

Allein Hettner blieb bei dem Gegenstande und meinte, daß Harald dieses
Urteil nicht so hart finden würde, wenn er erst einige jours tixss bei Kellers
besucht haben würde. Denn es ist ganz falsch, fügte er hinzu, wenn man meint,
daß man die Leute nicht in der Gesellschaft studiren und kennen lernen könne.
Wäre der Satz richtig, dann müßte man auch die Examina abschaffen. So ein
Mittagsessen oder Theeabend ist aber für Wirte wie für Geladene ein gegen¬
seitiges Examen; jeder hat sich aufs beste vorbereitet, sein Äußeres wie sein
Inneres im besten Lichte erscheinen zu lassen, und sx un^us Ivouvm. . . .

Dann werde ich also morgen die beste Gelegenheit haben, als Prüfung zu
erscheinen, aber sei milde.

Nicht bloß als Prüfung, erwiederte Hettner, sondern thue selbst die Augen
auf und suche die andern so zu durchdringen, wie sie es mit dir machen werden.
Übrigens habe ich schon etliche Donnerstage versäumt und werde morgen eben¬
falls erscheinen. Doch begleite mich noch ein Stück, ich muß auf das Kriminal-
gericht uach Moabit, und wenn du deine Wohnung zu Fuße aufsuchst, will
ich nicht den Gerichtswagen um zehn Pfennige in Kontribution setzen, sondern
ein Stück durch den Tiergarten mit dir gehen.

Während sie nun gemeinschaftlich weiter gingen, fuhr der redselige Hettner
fort: Du scheinst wohl von Kellers garnichts zu wissen und giebst gewiß schon
lange dem Mädel Unterricht. Ihr Künstler lebt eben blind in eurer Umgebung,
bei unsereinem müssen dagegen die Akten offen liegen, die ganze verantwortliche
Vernehmung, das Vorleben oder die Vorstrafen, alles muß bekannt sein.

Du thust ja gerade, als ob die Leute gestohlen hätten.

Gott sei Dank, daß nicht bloß die Verbrecher interessant, sondern auch un¬
bestrafte Leute noch imstande sind, unsre Teilnahme zu erwecken. Aber unterbrich
mich lieber nicht, sondern sei dankbar, wenn ich dich ein bischen über die Leute
unterrichte. Papa Keller ist ein reicher Hamburger; von armen Eltern geboren,
trat er schon in jungen Jahren in das bekannte große Handelshaus Brien
ein und wußte sich dort eine solche Stellung zu erringen, daß ihn der Chef
zum alleinigen Prokuristen bestellte. Im Hause war natürlich die berühmte
einzige Tochter -- sie kommt zuweilen anch noch im Leben und uicht bloß
im Romane vor, nur hat unsereiner nicht das Glück, ihr zu begegnen. Hilda
Brien, schön und reich, wäre sicher das umworbcnste Mädchen Hamburgs
gewesen, wenn sich nicht zu ihren geschilderten Vorzügen ein unsagbarer Hoch¬
mut gesellt hätte. In ihrer Kindheit von den Eltern, in ihrer Blüte von der
Gesellschaft und den Knrmachern Verzügen, glaubte sie sich alles und gegen jeden
gestatten zu dürfen. Das schreckte selbst die preußischen Leutnants ab, die im
hanseatischen Bataillon in Garnison standen, und so kam es, daß Hilda allmählich


Auf dein Stilfsor Joch.

Harald war über diese burschikose Art etwas verletzt und wollte, indem er
bemerkte, daß Vroni seine Schülerin sei, dem Gespräche eine andre Wendung
geben.

Allein Hettner blieb bei dem Gegenstande und meinte, daß Harald dieses
Urteil nicht so hart finden würde, wenn er erst einige jours tixss bei Kellers
besucht haben würde. Denn es ist ganz falsch, fügte er hinzu, wenn man meint,
daß man die Leute nicht in der Gesellschaft studiren und kennen lernen könne.
Wäre der Satz richtig, dann müßte man auch die Examina abschaffen. So ein
Mittagsessen oder Theeabend ist aber für Wirte wie für Geladene ein gegen¬
seitiges Examen; jeder hat sich aufs beste vorbereitet, sein Äußeres wie sein
Inneres im besten Lichte erscheinen zu lassen, und sx un^us Ivouvm. . . .

Dann werde ich also morgen die beste Gelegenheit haben, als Prüfung zu
erscheinen, aber sei milde.

Nicht bloß als Prüfung, erwiederte Hettner, sondern thue selbst die Augen
auf und suche die andern so zu durchdringen, wie sie es mit dir machen werden.
Übrigens habe ich schon etliche Donnerstage versäumt und werde morgen eben¬
falls erscheinen. Doch begleite mich noch ein Stück, ich muß auf das Kriminal-
gericht uach Moabit, und wenn du deine Wohnung zu Fuße aufsuchst, will
ich nicht den Gerichtswagen um zehn Pfennige in Kontribution setzen, sondern
ein Stück durch den Tiergarten mit dir gehen.

Während sie nun gemeinschaftlich weiter gingen, fuhr der redselige Hettner
fort: Du scheinst wohl von Kellers garnichts zu wissen und giebst gewiß schon
lange dem Mädel Unterricht. Ihr Künstler lebt eben blind in eurer Umgebung,
bei unsereinem müssen dagegen die Akten offen liegen, die ganze verantwortliche
Vernehmung, das Vorleben oder die Vorstrafen, alles muß bekannt sein.

Du thust ja gerade, als ob die Leute gestohlen hätten.

Gott sei Dank, daß nicht bloß die Verbrecher interessant, sondern auch un¬
bestrafte Leute noch imstande sind, unsre Teilnahme zu erwecken. Aber unterbrich
mich lieber nicht, sondern sei dankbar, wenn ich dich ein bischen über die Leute
unterrichte. Papa Keller ist ein reicher Hamburger; von armen Eltern geboren,
trat er schon in jungen Jahren in das bekannte große Handelshaus Brien
ein und wußte sich dort eine solche Stellung zu erringen, daß ihn der Chef
zum alleinigen Prokuristen bestellte. Im Hause war natürlich die berühmte
einzige Tochter — sie kommt zuweilen anch noch im Leben und uicht bloß
im Romane vor, nur hat unsereiner nicht das Glück, ihr zu begegnen. Hilda
Brien, schön und reich, wäre sicher das umworbcnste Mädchen Hamburgs
gewesen, wenn sich nicht zu ihren geschilderten Vorzügen ein unsagbarer Hoch¬
mut gesellt hätte. In ihrer Kindheit von den Eltern, in ihrer Blüte von der
Gesellschaft und den Knrmachern Verzügen, glaubte sie sich alles und gegen jeden
gestatten zu dürfen. Das schreckte selbst die preußischen Leutnants ab, die im
hanseatischen Bataillon in Garnison standen, und so kam es, daß Hilda allmählich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/208>, abgerufen am 15.01.2025.