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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dem Stilfser Joch.

Befriedigung ihres Wunsches, der in dem Unterrichte und in der Persönlichkeit
Haralds eine Genugthuung empfand. Es traten auch immer eigentümlichere
Anschauungen bei dem Mädchen hervor, die auf Harald eher befremdend als an¬
ziehend wirken mußten. Vroni ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne ihre
Unzufriedenheit mit der Stellung zu äußern, welche das weibliche Geschlecht in
der Gesellschaft einnahm; sie schwärmte für die Frauenemanzipation, und je mehr
sie sich mit den Argumenten waffnete, die sie dem Arsenal der Fran Hedwig
Dohm und dem Berliner Montagsblatte entlehnte, desto mehr reizte sie den
innern Widerspruch Haralds.

Brom hatte Harald schon des öftern im Auftrage ihres Vaters aufge¬
fordert, ihren Mir llxe zu besuchen, der allwöchentlich am Donnerstag Abend
bei ihnen stattfand. Harald, obwohl nach der Berliner Manier von verschiednen
Leuten in Gesellschaften eingefangen und abgestumpft gegen ein Treiben, bei
welchem weniger die Geselligkeit als andre Triebe des Menschen zur Geltung
gelangen, ließ solche Einladungen ruhig über sich ergehen. Er stand von nenn
bis elf Uhr an den Wänden herum, um die Tochter des Hauses mit Begei¬
sterung die MondschcimSonate, den Sohn des Hauses auf der Violine ein Ca-
Prieeio von Sarasate spielen, die Nichte ein Lied von Vrahms singen zu hören;
er saß bis ein Uhr nachts an der Seite dieses oder jenes Backfisches beim
Souper und war froh, wenn er, ermüdet, an allen Gliedern wie zerschlagen,
um zwei Uhr seine ferne Wohnung erreicht hatte und der Unsitte entgangen
war, welche nach den gesellschaftlichen Genüssen noch im Cafe Bauer bis zum
Morgengrauen die jüngere Männerwelt zusammen hielt. Harald setzte diesen
Verkehr fort, weil er immer noch glaubte, als Künstler desselben zu be¬
dürfen. Von diesem Standpunkte aus wäre ein Besuch bei Keller nur ein
Opfer mehr gewesen, das ihm als neue Zahl der bereits vorhandenen Summe
nicht schwer fallen konnte. Trotzdem machte er Vroni gegenüber Ausflüchte; es
war, als ob er eine größere Annäherung scheute. Vroni aber ließ nicht nach;
sie brachte eine förmliche Einladungskarte des Vaters, auf welche er eben so
förmlich erwiederte, daß er mit Dank der Einladung, sobald es ihm seine Zeit
erlaubte, entsprechen würde. Aber da dieser Fall nicht eintrat, so erschien eines
Tages Herr Keller selbst bei Stolberg und wiederholte die Einladung in so
freundlicher Weise, daß dieser schon für den nächsten Donnerstag zu großer
Befriedigung von Vater und Tochter sein Erscheinen zusagte.

Schon am nächsten Tage fügte es sich, daß, während Harald auf dem
Leipziger Platz einige Worte mit einem ihm begegnenden ehemaligen Schul¬
freunde, dem Rechtsanwalt Hettner wechselte, Vroni mit ihrem Vater vorüber¬
gingen und die beiden nicht nur freundlich begrüßten, sondern noch mit besondrer
Wendung zu Harald "Auf Morgen" zuriefen.

Woher kennst du denn den überspannten Zwiesel und seine kokette Tochter?
fragte Hettner.


Auf dem Stilfser Joch.

Befriedigung ihres Wunsches, der in dem Unterrichte und in der Persönlichkeit
Haralds eine Genugthuung empfand. Es traten auch immer eigentümlichere
Anschauungen bei dem Mädchen hervor, die auf Harald eher befremdend als an¬
ziehend wirken mußten. Vroni ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne ihre
Unzufriedenheit mit der Stellung zu äußern, welche das weibliche Geschlecht in
der Gesellschaft einnahm; sie schwärmte für die Frauenemanzipation, und je mehr
sie sich mit den Argumenten waffnete, die sie dem Arsenal der Fran Hedwig
Dohm und dem Berliner Montagsblatte entlehnte, desto mehr reizte sie den
innern Widerspruch Haralds.

Brom hatte Harald schon des öftern im Auftrage ihres Vaters aufge¬
fordert, ihren Mir llxe zu besuchen, der allwöchentlich am Donnerstag Abend
bei ihnen stattfand. Harald, obwohl nach der Berliner Manier von verschiednen
Leuten in Gesellschaften eingefangen und abgestumpft gegen ein Treiben, bei
welchem weniger die Geselligkeit als andre Triebe des Menschen zur Geltung
gelangen, ließ solche Einladungen ruhig über sich ergehen. Er stand von nenn
bis elf Uhr an den Wänden herum, um die Tochter des Hauses mit Begei¬
sterung die MondschcimSonate, den Sohn des Hauses auf der Violine ein Ca-
Prieeio von Sarasate spielen, die Nichte ein Lied von Vrahms singen zu hören;
er saß bis ein Uhr nachts an der Seite dieses oder jenes Backfisches beim
Souper und war froh, wenn er, ermüdet, an allen Gliedern wie zerschlagen,
um zwei Uhr seine ferne Wohnung erreicht hatte und der Unsitte entgangen
war, welche nach den gesellschaftlichen Genüssen noch im Cafe Bauer bis zum
Morgengrauen die jüngere Männerwelt zusammen hielt. Harald setzte diesen
Verkehr fort, weil er immer noch glaubte, als Künstler desselben zu be¬
dürfen. Von diesem Standpunkte aus wäre ein Besuch bei Keller nur ein
Opfer mehr gewesen, das ihm als neue Zahl der bereits vorhandenen Summe
nicht schwer fallen konnte. Trotzdem machte er Vroni gegenüber Ausflüchte; es
war, als ob er eine größere Annäherung scheute. Vroni aber ließ nicht nach;
sie brachte eine förmliche Einladungskarte des Vaters, auf welche er eben so
förmlich erwiederte, daß er mit Dank der Einladung, sobald es ihm seine Zeit
erlaubte, entsprechen würde. Aber da dieser Fall nicht eintrat, so erschien eines
Tages Herr Keller selbst bei Stolberg und wiederholte die Einladung in so
freundlicher Weise, daß dieser schon für den nächsten Donnerstag zu großer
Befriedigung von Vater und Tochter sein Erscheinen zusagte.

Schon am nächsten Tage fügte es sich, daß, während Harald auf dem
Leipziger Platz einige Worte mit einem ihm begegnenden ehemaligen Schul¬
freunde, dem Rechtsanwalt Hettner wechselte, Vroni mit ihrem Vater vorüber¬
gingen und die beiden nicht nur freundlich begrüßten, sondern noch mit besondrer
Wendung zu Harald „Auf Morgen" zuriefen.

Woher kennst du denn den überspannten Zwiesel und seine kokette Tochter?
fragte Hettner.


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[0207] Auf dem Stilfser Joch. Befriedigung ihres Wunsches, der in dem Unterrichte und in der Persönlichkeit Haralds eine Genugthuung empfand. Es traten auch immer eigentümlichere Anschauungen bei dem Mädchen hervor, die auf Harald eher befremdend als an¬ ziehend wirken mußten. Vroni ließ keine Gelegenheit vorübergehen, ohne ihre Unzufriedenheit mit der Stellung zu äußern, welche das weibliche Geschlecht in der Gesellschaft einnahm; sie schwärmte für die Frauenemanzipation, und je mehr sie sich mit den Argumenten waffnete, die sie dem Arsenal der Fran Hedwig Dohm und dem Berliner Montagsblatte entlehnte, desto mehr reizte sie den innern Widerspruch Haralds. Brom hatte Harald schon des öftern im Auftrage ihres Vaters aufge¬ fordert, ihren Mir llxe zu besuchen, der allwöchentlich am Donnerstag Abend bei ihnen stattfand. Harald, obwohl nach der Berliner Manier von verschiednen Leuten in Gesellschaften eingefangen und abgestumpft gegen ein Treiben, bei welchem weniger die Geselligkeit als andre Triebe des Menschen zur Geltung gelangen, ließ solche Einladungen ruhig über sich ergehen. Er stand von nenn bis elf Uhr an den Wänden herum, um die Tochter des Hauses mit Begei¬ sterung die MondschcimSonate, den Sohn des Hauses auf der Violine ein Ca- Prieeio von Sarasate spielen, die Nichte ein Lied von Vrahms singen zu hören; er saß bis ein Uhr nachts an der Seite dieses oder jenes Backfisches beim Souper und war froh, wenn er, ermüdet, an allen Gliedern wie zerschlagen, um zwei Uhr seine ferne Wohnung erreicht hatte und der Unsitte entgangen war, welche nach den gesellschaftlichen Genüssen noch im Cafe Bauer bis zum Morgengrauen die jüngere Männerwelt zusammen hielt. Harald setzte diesen Verkehr fort, weil er immer noch glaubte, als Künstler desselben zu be¬ dürfen. Von diesem Standpunkte aus wäre ein Besuch bei Keller nur ein Opfer mehr gewesen, das ihm als neue Zahl der bereits vorhandenen Summe nicht schwer fallen konnte. Trotzdem machte er Vroni gegenüber Ausflüchte; es war, als ob er eine größere Annäherung scheute. Vroni aber ließ nicht nach; sie brachte eine förmliche Einladungskarte des Vaters, auf welche er eben so förmlich erwiederte, daß er mit Dank der Einladung, sobald es ihm seine Zeit erlaubte, entsprechen würde. Aber da dieser Fall nicht eintrat, so erschien eines Tages Herr Keller selbst bei Stolberg und wiederholte die Einladung in so freundlicher Weise, daß dieser schon für den nächsten Donnerstag zu großer Befriedigung von Vater und Tochter sein Erscheinen zusagte. Schon am nächsten Tage fügte es sich, daß, während Harald auf dem Leipziger Platz einige Worte mit einem ihm begegnenden ehemaligen Schul¬ freunde, dem Rechtsanwalt Hettner wechselte, Vroni mit ihrem Vater vorüber¬ gingen und die beiden nicht nur freundlich begrüßten, sondern noch mit besondrer Wendung zu Harald „Auf Morgen" zuriefen. Woher kennst du denn den überspannten Zwiesel und seine kokette Tochter? fragte Hettner.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/207>, abgerufen am 15.01.2025.