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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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geistige Anlage verleugnend, in der Sinnenwelt vollkommen aufgeht, anderseits
2. eine auffallende Vervollkommnung der Muskelkräfte und Fertigkeiten, welche
sich als Stärke, aber mehr noch als Gelenkigkeit, Schnelligkeit, ganz vorzüglich
aber als Sicherheit zu erkennen giebt und selbst von den körperlich gewandtesten
Menschen mittels anhaltender Übung entweder garnicht oder doch nur selten
erreicht wird. Es offenbart sich bei den Jsolirten ein.wahrhaft wunderbares
Anpassungsvermögen des menschlichen Wesens an die zufälligen äußern Ver¬
hältnisse, welches zwar im allgemeinen auch beim Kulturmenschen, aber doch nie
in so auffallendem Maße hervortritt. Der Wildling geht, wenn er in Ver¬
gesellschaft geraten ist, trotz des dieser Gangart widerstrebenden Baues seiner
Glieder und seines Rumpfes, ans allen Vieren, nährt sich, unter Schafe oder
Rinder geraten, von Gras, Blättern, Kräutern und Baumrinden, unter Bären
und Wölfen von Früchten, Wurzeln und rohem Fleisch, läßt sich in der Aus¬
wahl von Nahrungsmitteln vom feinsten Geruchssinn, der beim Tiere eine so
große, in der menschlichen Gesellschaft eine so geringe Rolle spielt, leiten, kugelt
sich in der Bärenhöhle zusammen wie Pez, läuft mit außerordentlicher Schnellig¬
keit, klettert wie eine Katze, schwimmt und taucht wie ein Wasserhuhn, fängt
Fische wie eine Otter, springt wie Gemsen von Klippe zu Klippe, wie Affen
von Baum zu Baum, und erwehrt sich des Angriffes von stärkern Tieren mit
dem elenden Gebisse, womit ihn die Natur ausgerüstet hat, oder auch, wenn er
aufrecht geht, mit einem Pciigel. 4. Der Wildling zeigt sich den Tieren nicht
allein gewachsen, sondern auch überlegen. Der Bamberger Knabe biß sich in
vierfüßiger Stellung mit den größten Hunden herum und trieb sie schließlich
durch seine behenden Angriffe in die Flucht, wobei er ihren Lauf vollkommen
nachahmte. Das aufrecht gehende Mädchen von Songi erwartete bei ihrem
Eintritt in das Dorf eine auf sie losgelassene Dogge stehendes Fußes und
streckte sie in dem. Augenblicke, wo dieselbe auf sie anrannte, mit einem Schlage
ihrer Keule auf den Kopf tot zu ihren Füßen nieder. Unzweifelhaft steht selbst
der geistig unentwickelte verwilderte Mensch intellektuell über den Tieren, sogar
über dem menschenähnlichste" Affen, bleibt aber dessenungeachtet ein Tier, ein
vollendetes Vrutum. Der interessanteste Punkt ist jedoch 5>., daß die eigen¬
tümlichen Kräfte einerseits der geistig unentwickelten, anderseits der vernünftig
gewordenen Menschenseele sich bis zu einem gewissen Grade gegenseitig auszu¬
schließen, also unvereinbar zu sein scheinen. In demselben Verhältnis als die
Vernunftbildung, die Klärung des Selbstbewußtseins an der Hand der Sprache
fortschreitet, gehen die hervorragendsten Eigenschaften des Wildlcbens, die Be¬
hendigkeit und Sicherheit der Bewegung, rückwärts.

Es ist ein entschieden abnormer Zustand im Kulturmenschen, in welchem
Behendigkeit, Leichtigkeit und Sicherheit sich wieder einfinden, aber nur auf
Kosten des Selbstbewußtseins: der Somnambulismus, wofern er aus dem
Tiefschlaf heraus periodisch oder vollkommen atypisch in der Form des Traum-


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geistige Anlage verleugnend, in der Sinnenwelt vollkommen aufgeht, anderseits
2. eine auffallende Vervollkommnung der Muskelkräfte und Fertigkeiten, welche
sich als Stärke, aber mehr noch als Gelenkigkeit, Schnelligkeit, ganz vorzüglich
aber als Sicherheit zu erkennen giebt und selbst von den körperlich gewandtesten
Menschen mittels anhaltender Übung entweder garnicht oder doch nur selten
erreicht wird. Es offenbart sich bei den Jsolirten ein.wahrhaft wunderbares
Anpassungsvermögen des menschlichen Wesens an die zufälligen äußern Ver¬
hältnisse, welches zwar im allgemeinen auch beim Kulturmenschen, aber doch nie
in so auffallendem Maße hervortritt. Der Wildling geht, wenn er in Ver¬
gesellschaft geraten ist, trotz des dieser Gangart widerstrebenden Baues seiner
Glieder und seines Rumpfes, ans allen Vieren, nährt sich, unter Schafe oder
Rinder geraten, von Gras, Blättern, Kräutern und Baumrinden, unter Bären
und Wölfen von Früchten, Wurzeln und rohem Fleisch, läßt sich in der Aus¬
wahl von Nahrungsmitteln vom feinsten Geruchssinn, der beim Tiere eine so
große, in der menschlichen Gesellschaft eine so geringe Rolle spielt, leiten, kugelt
sich in der Bärenhöhle zusammen wie Pez, läuft mit außerordentlicher Schnellig¬
keit, klettert wie eine Katze, schwimmt und taucht wie ein Wasserhuhn, fängt
Fische wie eine Otter, springt wie Gemsen von Klippe zu Klippe, wie Affen
von Baum zu Baum, und erwehrt sich des Angriffes von stärkern Tieren mit
dem elenden Gebisse, womit ihn die Natur ausgerüstet hat, oder auch, wenn er
aufrecht geht, mit einem Pciigel. 4. Der Wildling zeigt sich den Tieren nicht
allein gewachsen, sondern auch überlegen. Der Bamberger Knabe biß sich in
vierfüßiger Stellung mit den größten Hunden herum und trieb sie schließlich
durch seine behenden Angriffe in die Flucht, wobei er ihren Lauf vollkommen
nachahmte. Das aufrecht gehende Mädchen von Songi erwartete bei ihrem
Eintritt in das Dorf eine auf sie losgelassene Dogge stehendes Fußes und
streckte sie in dem. Augenblicke, wo dieselbe auf sie anrannte, mit einem Schlage
ihrer Keule auf den Kopf tot zu ihren Füßen nieder. Unzweifelhaft steht selbst
der geistig unentwickelte verwilderte Mensch intellektuell über den Tieren, sogar
über dem menschenähnlichste» Affen, bleibt aber dessenungeachtet ein Tier, ein
vollendetes Vrutum. Der interessanteste Punkt ist jedoch 5>., daß die eigen¬
tümlichen Kräfte einerseits der geistig unentwickelten, anderseits der vernünftig
gewordenen Menschenseele sich bis zu einem gewissen Grade gegenseitig auszu¬
schließen, also unvereinbar zu sein scheinen. In demselben Verhältnis als die
Vernunftbildung, die Klärung des Selbstbewußtseins an der Hand der Sprache
fortschreitet, gehen die hervorragendsten Eigenschaften des Wildlcbens, die Be¬
hendigkeit und Sicherheit der Bewegung, rückwärts.

Es ist ein entschieden abnormer Zustand im Kulturmenschen, in welchem
Behendigkeit, Leichtigkeit und Sicherheit sich wieder einfinden, aber nur auf
Kosten des Selbstbewußtseins: der Somnambulismus, wofern er aus dem
Tiefschlaf heraus periodisch oder vollkommen atypisch in der Form des Traum-


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[0186] I'Juno sapiens 5früh 1^. geistige Anlage verleugnend, in der Sinnenwelt vollkommen aufgeht, anderseits 2. eine auffallende Vervollkommnung der Muskelkräfte und Fertigkeiten, welche sich als Stärke, aber mehr noch als Gelenkigkeit, Schnelligkeit, ganz vorzüglich aber als Sicherheit zu erkennen giebt und selbst von den körperlich gewandtesten Menschen mittels anhaltender Übung entweder garnicht oder doch nur selten erreicht wird. Es offenbart sich bei den Jsolirten ein.wahrhaft wunderbares Anpassungsvermögen des menschlichen Wesens an die zufälligen äußern Ver¬ hältnisse, welches zwar im allgemeinen auch beim Kulturmenschen, aber doch nie in so auffallendem Maße hervortritt. Der Wildling geht, wenn er in Ver¬ gesellschaft geraten ist, trotz des dieser Gangart widerstrebenden Baues seiner Glieder und seines Rumpfes, ans allen Vieren, nährt sich, unter Schafe oder Rinder geraten, von Gras, Blättern, Kräutern und Baumrinden, unter Bären und Wölfen von Früchten, Wurzeln und rohem Fleisch, läßt sich in der Aus¬ wahl von Nahrungsmitteln vom feinsten Geruchssinn, der beim Tiere eine so große, in der menschlichen Gesellschaft eine so geringe Rolle spielt, leiten, kugelt sich in der Bärenhöhle zusammen wie Pez, läuft mit außerordentlicher Schnellig¬ keit, klettert wie eine Katze, schwimmt und taucht wie ein Wasserhuhn, fängt Fische wie eine Otter, springt wie Gemsen von Klippe zu Klippe, wie Affen von Baum zu Baum, und erwehrt sich des Angriffes von stärkern Tieren mit dem elenden Gebisse, womit ihn die Natur ausgerüstet hat, oder auch, wenn er aufrecht geht, mit einem Pciigel. 4. Der Wildling zeigt sich den Tieren nicht allein gewachsen, sondern auch überlegen. Der Bamberger Knabe biß sich in vierfüßiger Stellung mit den größten Hunden herum und trieb sie schließlich durch seine behenden Angriffe in die Flucht, wobei er ihren Lauf vollkommen nachahmte. Das aufrecht gehende Mädchen von Songi erwartete bei ihrem Eintritt in das Dorf eine auf sie losgelassene Dogge stehendes Fußes und streckte sie in dem. Augenblicke, wo dieselbe auf sie anrannte, mit einem Schlage ihrer Keule auf den Kopf tot zu ihren Füßen nieder. Unzweifelhaft steht selbst der geistig unentwickelte verwilderte Mensch intellektuell über den Tieren, sogar über dem menschenähnlichste» Affen, bleibt aber dessenungeachtet ein Tier, ein vollendetes Vrutum. Der interessanteste Punkt ist jedoch 5>., daß die eigen¬ tümlichen Kräfte einerseits der geistig unentwickelten, anderseits der vernünftig gewordenen Menschenseele sich bis zu einem gewissen Grade gegenseitig auszu¬ schließen, also unvereinbar zu sein scheinen. In demselben Verhältnis als die Vernunftbildung, die Klärung des Selbstbewußtseins an der Hand der Sprache fortschreitet, gehen die hervorragendsten Eigenschaften des Wildlcbens, die Be¬ hendigkeit und Sicherheit der Bewegung, rückwärts. Es ist ein entschieden abnormer Zustand im Kulturmenschen, in welchem Behendigkeit, Leichtigkeit und Sicherheit sich wieder einfinden, aber nur auf Kosten des Selbstbewußtseins: der Somnambulismus, wofern er aus dem Tiefschlaf heraus periodisch oder vollkommen atypisch in der Form des Traum-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/186>, abgerufen am 15.01.2025.