Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Homo sapiens kerus das Mädchen von Songi, den vollständigsten von allen, für ungenügend. Es Wir wollen nun die den Wildlingen gemeinschaftlichen Charakterzüge, soweit In demselben Grade, als die Berichte über die einzelnen Wildlinge unter 1. Die Isolation des geistig unreifen oder unmündigen Individuums be¬ Grenzboten IV. Z88S L3
Homo sapiens kerus das Mädchen von Songi, den vollständigsten von allen, für ungenügend. Es Wir wollen nun die den Wildlingen gemeinschaftlichen Charakterzüge, soweit In demselben Grade, als die Berichte über die einzelnen Wildlinge unter 1. Die Isolation des geistig unreifen oder unmündigen Individuums be¬ Grenzboten IV. Z88S L3
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Homo sapiens kerus
das Mädchen von Songi, den vollständigsten von allen, für ungenügend. Es
ist dies jene Art von Skepsis, welche in der Bestreitung alles dessen, was über
den Horizont der alltäglichen Erscheinungen hinausgeht, den geläufigen Be¬
griffen sich nicht bequem anschmiegt, den Ruhm des eignen Scharfsinnes zu
feiern strebt; es ist dieselbe auch in der Gesellschaft sich spreizende Nörgelsucht,
welche einst kühne und verdiente Touristen wie Marco Polo, Levaillant u. a,
für Schwindler und Lügenbolde erklärte, derselbe Starrsinn, mit welchem auch
Referent einst bittere Kämpfe in Berufsangelegenheiten zu bestehen hatte — iu-
kancluin rollen ronovars ckolorvnr —, dieselbe Zweifelsucht, welche nicht auf
Scharfsinn und wahrem kritischen Geiste, sondern vielfach auf Unwissenheit oder
doch auf Unbekanntschaft mit dem strittigen Gegenstande beruht.
Wir wollen nun die den Wildlingen gemeinschaftlichen Charakterzüge, soweit
sie uns überliefert worden, aufzählen. Es sind folgende: 1. Ein mehr oder
weniger zurückschreckendes Äußere, wilder Blick, dichter Hautschmutz, unbändiges
Benehmen. 2. Gang auf allen Vieren, wovon nur einzelne, insbesondre das
Mädchen von Songi, eine Ausnahme machten. 3. Große Körperkraft und Ge¬
wandtheit, welche sich nach allen Richtungen hin, in der Gegenwehr, im Schnell¬
lauf, im Klettern, Schwimmen, in weiten Sprüngen von Klippe zu Klippe, von
Beinen zu Baum, sowie im Ausgraben von Wurzeln, im Ablösen von Baum¬
rinden u. s. w. zu erkennen gab. 4. Auf Gras, Blätter, Kräuter, Baumrinden,
Wurzeln, rohes Fleisch beschränkte Nahrung, während sie gegen alle künstlich
bereiteten Speisen, insbesondre gegen gekochtes oder gebratenes Fleisch, sowie
gegen geistige Getränke einen anfangs unüberwindlichen Widerwillen an den
Tag legten und nur äußerst laugsam, und nicht ohne gefährliche Krisen, sich
an die Kulturnahrungsmittel gewöhnten. 5. Lang anhaltender Drang zum
Entrinnen und zur Rückkehr in die ersehnte Wildnis, welcher hauptsächlich beim
Anblick von Waldung plötzlich erwachte. 6. Schwer überwindlichcr Widerwille
gegen jede Art von Bekleidung, zumal der Füße. 7. Mangel der Sprache, an
deren Stelle häßliche, unartikulirte und an die Stimme derjenigen Tiere, in
deren Gesellschaft der Wildling früher zugebracht hatte, erinnernde Töne und
Schreie ausgestoßen winden. 8. Fehlende Erinnerung an die Zustände und
Ereignisse des Wildlebens bei denjenigen, welche die Sprache erlernten. 9. Aus¬
nehmend langsamer Fortschritt der Spracherlernuug und Gesittung.
In demselben Grade, als die Berichte über die einzelnen Wildlinge unter
sich übereinstimmen, stehen auch die einzelnen Charakterzüge unter sich im Ein¬
klange und bilden ein widersprnchfreics harmonisches Ganze. Hierin nun liegt
der vollständige Beweis der geschichtlichen Thatsächlichkeit der ganzen Erscheinung,
Welche uns berechtigt, sie für die Anthropologie zu verwerten. Es ergeben
sich daraus folgende unangreifbare Sätze:
1. Die Isolation des geistig unreifen oder unmündigen Individuums be¬
wirkt eine so vollständige Verlierung des menschlichen Wesens, daß dieses, alle
Grenzboten IV. Z88S L3
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