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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Homo sapiens tsnis

wcmdelns und Traumhaudelns bei nervösen Individuen männlichen Geschlechtes
auftritt. In höher potenzirten somnambulen, dem weiblichen Geschlechte eignen
Zuständen stellt sich bei gleichfalls vollkommner Latenz des Selbstbewußtseins
ein -- freilich noch vielfach bestrittenes -- unmittelbares, deu Bereich der
Sinne überschreitendes Schauen, Hell- und Fernsehen genannt, ein. Hier ist
die exklusive Trennung beider Zustände der Seelenthätigkeit vollkommen durch¬
geführt.

Es fehlt jedoch keineswegs an normalen Zuständen des Seelenlebens, wo
die mehr unmittelbar wirkende Seelenthätigkeit mit einem gewissen Grade von
Wachsein des Selbstbewußtseins verbunden ist, wo es aber weder in der einen
noch in der andern Sphäre des Seelenlebens zu der beiden Zuständen eigen¬
tümlichen vollkommenen Kraftentfaltung kommt. Im großen Ganzen vertritt
diese Vereinigung beider sich gegenseitig hemmenden Extreme das weibliche Ge¬
schlecht. Was das Weib entschieden vor dem Manne voraus hat, ist die größere
Geschmeidigkeit, Sicherheit und Unermüdlichkeit der Bewegungen, die größere
Folgsamkeit des gesamten Muslelfasersystems, geistig überdies ein rascheres Er¬
kennen des Nichtigen, wie durch unmittelbare, alles Abwägen und Bewußt-
werden der Gründe ausschließende Anschauung, während ihm die höhere ana¬
lytische Thätigkeit und alle Produktivität auf rein geistigem Gebiete entzogen
bleibt, mit andern Worten: Im Weibe ist die Seele, im Manne der Geist das
Überwiegende.

Allein dieses geistige Verhalten ist dem Weibe keineswegs ausschließlich
eigen, auch im männlichen Geschlechte fehlt es nicht an Individuen, in welchen
beide sich gegenseitig schwächende Extreme hermaphroditisch vereinigt sind. Referent
lebte mehrere Jahrzehnte lang an der Seite eines Berufsgenossen, welcher mit
einer annähernd Mikrocephalen Kopfform und ungenügender wissenschaftlicher
Bildung eine große technische Gewandtheit und ein in den meisten Fällen sicher
zutreffendes Urteil mit fast absolutem Unvermögen der klaren analytischen Be¬
gründung seines Verfahrens verband nud es zwar zu praktischen Regeln, aber
in keinem Punkte zu selbständigen neuen Gedanken brachte. Einen noch ungleich
interessanteren Fall teilt H. Steffens in seiner bekannten zehnbändigcn Auto¬
biographie (Was ich erlebte. 1840--44) mit: "Möller (Professor? in Freiberg)
hatte eine ungemein glückliche körperliche Organisation, die ihm unter den jüngeren
Männern ein großes Ansehen erwarb. Als Schwimmer und noch mehr als
Schlittschuhläufer war er Virtuose. Nie sah ich eine ebenso sichere als an¬
mutige Art, sich auf dem Eise zu bewegen. Jede Stellung verdiente fixirt zu
werden. Einst als ich in, tiefen Gespräche mit ihm auf der Promenade bei
Freiberg ging, sprang er mitten im Gespräche ans ein längs eines tiefen Grabens
hinlaufendes Geländer und schritt mit der Sicherheit eines Somnambuls fort,
ohne nur seine Rede zu unterbrechen. Mit diesen körperlichen, sowie mit manchen
geistigen Vorzügen verband er eine innere Ängstlichkeit, die er nie zu bewäl-


Homo sapiens tsnis

wcmdelns und Traumhaudelns bei nervösen Individuen männlichen Geschlechtes
auftritt. In höher potenzirten somnambulen, dem weiblichen Geschlechte eignen
Zuständen stellt sich bei gleichfalls vollkommner Latenz des Selbstbewußtseins
ein — freilich noch vielfach bestrittenes — unmittelbares, deu Bereich der
Sinne überschreitendes Schauen, Hell- und Fernsehen genannt, ein. Hier ist
die exklusive Trennung beider Zustände der Seelenthätigkeit vollkommen durch¬
geführt.

Es fehlt jedoch keineswegs an normalen Zuständen des Seelenlebens, wo
die mehr unmittelbar wirkende Seelenthätigkeit mit einem gewissen Grade von
Wachsein des Selbstbewußtseins verbunden ist, wo es aber weder in der einen
noch in der andern Sphäre des Seelenlebens zu der beiden Zuständen eigen¬
tümlichen vollkommenen Kraftentfaltung kommt. Im großen Ganzen vertritt
diese Vereinigung beider sich gegenseitig hemmenden Extreme das weibliche Ge¬
schlecht. Was das Weib entschieden vor dem Manne voraus hat, ist die größere
Geschmeidigkeit, Sicherheit und Unermüdlichkeit der Bewegungen, die größere
Folgsamkeit des gesamten Muslelfasersystems, geistig überdies ein rascheres Er¬
kennen des Nichtigen, wie durch unmittelbare, alles Abwägen und Bewußt-
werden der Gründe ausschließende Anschauung, während ihm die höhere ana¬
lytische Thätigkeit und alle Produktivität auf rein geistigem Gebiete entzogen
bleibt, mit andern Worten: Im Weibe ist die Seele, im Manne der Geist das
Überwiegende.

Allein dieses geistige Verhalten ist dem Weibe keineswegs ausschließlich
eigen, auch im männlichen Geschlechte fehlt es nicht an Individuen, in welchen
beide sich gegenseitig schwächende Extreme hermaphroditisch vereinigt sind. Referent
lebte mehrere Jahrzehnte lang an der Seite eines Berufsgenossen, welcher mit
einer annähernd Mikrocephalen Kopfform und ungenügender wissenschaftlicher
Bildung eine große technische Gewandtheit und ein in den meisten Fällen sicher
zutreffendes Urteil mit fast absolutem Unvermögen der klaren analytischen Be¬
gründung seines Verfahrens verband nud es zwar zu praktischen Regeln, aber
in keinem Punkte zu selbständigen neuen Gedanken brachte. Einen noch ungleich
interessanteren Fall teilt H. Steffens in seiner bekannten zehnbändigcn Auto¬
biographie (Was ich erlebte. 1840—44) mit: „Möller (Professor? in Freiberg)
hatte eine ungemein glückliche körperliche Organisation, die ihm unter den jüngeren
Männern ein großes Ansehen erwarb. Als Schwimmer und noch mehr als
Schlittschuhläufer war er Virtuose. Nie sah ich eine ebenso sichere als an¬
mutige Art, sich auf dem Eise zu bewegen. Jede Stellung verdiente fixirt zu
werden. Einst als ich in, tiefen Gespräche mit ihm auf der Promenade bei
Freiberg ging, sprang er mitten im Gespräche ans ein längs eines tiefen Grabens
hinlaufendes Geländer und schritt mit der Sicherheit eines Somnambuls fort,
ohne nur seine Rede zu unterbrechen. Mit diesen körperlichen, sowie mit manchen
geistigen Vorzügen verband er eine innere Ängstlichkeit, die er nie zu bewäl-


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[0187] Homo sapiens tsnis wcmdelns und Traumhaudelns bei nervösen Individuen männlichen Geschlechtes auftritt. In höher potenzirten somnambulen, dem weiblichen Geschlechte eignen Zuständen stellt sich bei gleichfalls vollkommner Latenz des Selbstbewußtseins ein — freilich noch vielfach bestrittenes — unmittelbares, deu Bereich der Sinne überschreitendes Schauen, Hell- und Fernsehen genannt, ein. Hier ist die exklusive Trennung beider Zustände der Seelenthätigkeit vollkommen durch¬ geführt. Es fehlt jedoch keineswegs an normalen Zuständen des Seelenlebens, wo die mehr unmittelbar wirkende Seelenthätigkeit mit einem gewissen Grade von Wachsein des Selbstbewußtseins verbunden ist, wo es aber weder in der einen noch in der andern Sphäre des Seelenlebens zu der beiden Zuständen eigen¬ tümlichen vollkommenen Kraftentfaltung kommt. Im großen Ganzen vertritt diese Vereinigung beider sich gegenseitig hemmenden Extreme das weibliche Ge¬ schlecht. Was das Weib entschieden vor dem Manne voraus hat, ist die größere Geschmeidigkeit, Sicherheit und Unermüdlichkeit der Bewegungen, die größere Folgsamkeit des gesamten Muslelfasersystems, geistig überdies ein rascheres Er¬ kennen des Nichtigen, wie durch unmittelbare, alles Abwägen und Bewußt- werden der Gründe ausschließende Anschauung, während ihm die höhere ana¬ lytische Thätigkeit und alle Produktivität auf rein geistigem Gebiete entzogen bleibt, mit andern Worten: Im Weibe ist die Seele, im Manne der Geist das Überwiegende. Allein dieses geistige Verhalten ist dem Weibe keineswegs ausschließlich eigen, auch im männlichen Geschlechte fehlt es nicht an Individuen, in welchen beide sich gegenseitig schwächende Extreme hermaphroditisch vereinigt sind. Referent lebte mehrere Jahrzehnte lang an der Seite eines Berufsgenossen, welcher mit einer annähernd Mikrocephalen Kopfform und ungenügender wissenschaftlicher Bildung eine große technische Gewandtheit und ein in den meisten Fällen sicher zutreffendes Urteil mit fast absolutem Unvermögen der klaren analytischen Be¬ gründung seines Verfahrens verband nud es zwar zu praktischen Regeln, aber in keinem Punkte zu selbständigen neuen Gedanken brachte. Einen noch ungleich interessanteren Fall teilt H. Steffens in seiner bekannten zehnbändigcn Auto¬ biographie (Was ich erlebte. 1840—44) mit: „Möller (Professor? in Freiberg) hatte eine ungemein glückliche körperliche Organisation, die ihm unter den jüngeren Männern ein großes Ansehen erwarb. Als Schwimmer und noch mehr als Schlittschuhläufer war er Virtuose. Nie sah ich eine ebenso sichere als an¬ mutige Art, sich auf dem Eise zu bewegen. Jede Stellung verdiente fixirt zu werden. Einst als ich in, tiefen Gespräche mit ihm auf der Promenade bei Freiberg ging, sprang er mitten im Gespräche ans ein längs eines tiefen Grabens hinlaufendes Geländer und schritt mit der Sicherheit eines Somnambuls fort, ohne nur seine Rede zu unterbrechen. Mit diesen körperlichen, sowie mit manchen geistigen Vorzügen verband er eine innere Ängstlichkeit, die er nie zu bewäl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/187>, abgerufen am 15.01.2025.