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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die sogenannte Öffentliche Meinung.

^MA. ^
^>"MI^eher Wesen, Bildung und Einfluß der öffentlichen Meinung sind
schon vielfach tiefsinnige Untersuchungen angestellt und gelehrte
Blinder geschrieben worden; aufgeklärt scheint mir aber der Gegen¬
stand noch lange nicht zu sein. Zwar glaube ich auch nicht, daß
meine aphoristischen Betrachtungen des Rätsels Kern treffen
werden, aber vielleicht regen sie doch den Einen und den Andern zum Nach¬
denken an und berichtigen manche bisher im Schwange gewesene Auffassungen.

Die Leser dieser Zeitschrift, die sich -- Gott sei Dank -- über das ganze
Reich verbreiten, sind durch heimische wie auswärtige Blätter gewiß mehr als
genügend über den jüngsten Skandalprozeß unterrichtet, zu welchem die Be¬
ziehungen eines Berliner Malers zu seinem Modell Anlaß gaben. Der Aus¬
gang ist auch bekannt und ebenso die ausschließliche Parteinahme der haupt¬
städtischen liberalen Presse sür die durch das Schwurgericht freigesprochenen
Angeklagten. Die Zeitungen, welche schon während des Prozesses mit ihrer
Kritik nicht zurückhielten, machten in schneller Aufeinanderfolge aus dem Frei¬
gesprochenen einen Unschuldigen, aus dem Unschuldigen einen Märtyrer und aus
dem Märtyrer einen Kcuschheitsapostel, und triumphirend tönt es aus allen
Spalten der fortgeschrittenen Journalistik: "Die öffentliche Meinung hat den
Sieg davongetragen."

Die Reklame hat ja genügend dafür gesorgt, daß der erwähnte Prozeß
noch immer den Gesprächsstoff bildet, ein Beweis, wie richtig Schiller die Welt
zu beurteilen verstand, wenn er die Herrschaft über sie der Liebe -- in allen
ihren niedern und hohen Graden -- neben dem Hunger einräumt. Ich habe
auch über diesen Prozeß mit verschiednen Leuten gesprochen, und da ich sehr
viel in der Gesellschaft verkehre, so hat meine Unterhaltung mit Personen der


Grmzbvwl IV. 1385. 2S


Die sogenannte Öffentliche Meinung.

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^>«MI^eher Wesen, Bildung und Einfluß der öffentlichen Meinung sind
schon vielfach tiefsinnige Untersuchungen angestellt und gelehrte
Blinder geschrieben worden; aufgeklärt scheint mir aber der Gegen¬
stand noch lange nicht zu sein. Zwar glaube ich auch nicht, daß
meine aphoristischen Betrachtungen des Rätsels Kern treffen
werden, aber vielleicht regen sie doch den Einen und den Andern zum Nach¬
denken an und berichtigen manche bisher im Schwange gewesene Auffassungen.

Die Leser dieser Zeitschrift, die sich — Gott sei Dank — über das ganze
Reich verbreiten, sind durch heimische wie auswärtige Blätter gewiß mehr als
genügend über den jüngsten Skandalprozeß unterrichtet, zu welchem die Be¬
ziehungen eines Berliner Malers zu seinem Modell Anlaß gaben. Der Aus¬
gang ist auch bekannt und ebenso die ausschließliche Parteinahme der haupt¬
städtischen liberalen Presse sür die durch das Schwurgericht freigesprochenen
Angeklagten. Die Zeitungen, welche schon während des Prozesses mit ihrer
Kritik nicht zurückhielten, machten in schneller Aufeinanderfolge aus dem Frei¬
gesprochenen einen Unschuldigen, aus dem Unschuldigen einen Märtyrer und aus
dem Märtyrer einen Kcuschheitsapostel, und triumphirend tönt es aus allen
Spalten der fortgeschrittenen Journalistik: „Die öffentliche Meinung hat den
Sieg davongetragen."

Die Reklame hat ja genügend dafür gesorgt, daß der erwähnte Prozeß
noch immer den Gesprächsstoff bildet, ein Beweis, wie richtig Schiller die Welt
zu beurteilen verstand, wenn er die Herrschaft über sie der Liebe — in allen
ihren niedern und hohen Graden — neben dem Hunger einräumt. Ich habe
auch über diesen Prozeß mit verschiednen Leuten gesprochen, und da ich sehr
viel in der Gesellschaft verkehre, so hat meine Unterhaltung mit Personen der


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[0177] [Abbildung] Die sogenannte Öffentliche Meinung. ^MA. ^ ^>«MI^eher Wesen, Bildung und Einfluß der öffentlichen Meinung sind schon vielfach tiefsinnige Untersuchungen angestellt und gelehrte Blinder geschrieben worden; aufgeklärt scheint mir aber der Gegen¬ stand noch lange nicht zu sein. Zwar glaube ich auch nicht, daß meine aphoristischen Betrachtungen des Rätsels Kern treffen werden, aber vielleicht regen sie doch den Einen und den Andern zum Nach¬ denken an und berichtigen manche bisher im Schwange gewesene Auffassungen. Die Leser dieser Zeitschrift, die sich — Gott sei Dank — über das ganze Reich verbreiten, sind durch heimische wie auswärtige Blätter gewiß mehr als genügend über den jüngsten Skandalprozeß unterrichtet, zu welchem die Be¬ ziehungen eines Berliner Malers zu seinem Modell Anlaß gaben. Der Aus¬ gang ist auch bekannt und ebenso die ausschließliche Parteinahme der haupt¬ städtischen liberalen Presse sür die durch das Schwurgericht freigesprochenen Angeklagten. Die Zeitungen, welche schon während des Prozesses mit ihrer Kritik nicht zurückhielten, machten in schneller Aufeinanderfolge aus dem Frei¬ gesprochenen einen Unschuldigen, aus dem Unschuldigen einen Märtyrer und aus dem Märtyrer einen Kcuschheitsapostel, und triumphirend tönt es aus allen Spalten der fortgeschrittenen Journalistik: „Die öffentliche Meinung hat den Sieg davongetragen." Die Reklame hat ja genügend dafür gesorgt, daß der erwähnte Prozeß noch immer den Gesprächsstoff bildet, ein Beweis, wie richtig Schiller die Welt zu beurteilen verstand, wenn er die Herrschaft über sie der Liebe — in allen ihren niedern und hohen Graden — neben dem Hunger einräumt. Ich habe auch über diesen Prozeß mit verschiednen Leuten gesprochen, und da ich sehr viel in der Gesellschaft verkehre, so hat meine Unterhaltung mit Personen der Grmzbvwl IV. 1385. 2S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/177>, abgerufen am 15.01.2025.