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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Bernfsklassenwcchl.

Es bleibt demnach als Motiv zum Austritt der politische Meinungswechsel.
In erregten Zeiten wird derselbe allerdings Verschiebungen bewirken. Konfessionelle,
staatsrechtliche und soziale Streitfragen können alsdann Masfencmstritte, Se¬
zessionen und neue Gruppenbildungen hervorrufen. In gewöhnlichen Zeitläufen
aber wird zu Übertritten aus der einen in die andre Meinungsgruppe der Anlaß
fehlen und der demagogischen Wühlerei wie deu Bekehrungsversuchen der Partei¬
agenten der Boden entzogen sein. Dies sichert den Wcchlvercinen eine größere
Kontinuität und gewährt die Möglichkeit, das Parteiprogramm schärfer zu
präzisiren.

Heutzutage nötigt die ausschlaggebende Wichtigkeit der Majorität die Führer
der großen Parteien zu einer Verallgemeinerung ihrer Parteigrundsätze. Da es
gilt, möglichst viel Anhänger zu gewinnen, zeigt das Programm eine phrasen¬
hafte, verschwommene Form, welche bestimmt ist, unter weitgehenden Verheißungen
und mit Aufwendung eines teils überflüssigen, teils veralteten Apparats glänzender
Redensarten und Schlagwörter alle diejenigen anzulocken, denen das gegnerische
Programm noch weniger zusagt. Aus diesem Grunde zählt jede der heutigen
Parteien eine große Menge von Mitgliedern, welche sich nur deshalb angeschlossen
haben, weil es für ihre in vielen Teilen von dem Wahlprogramme abweichenden
Anschauungen keinen Krystallisativnspnnkt gab. Die Berufswahl dagegen ge¬
stattet, die Form abstrakter Postulate zu verlassen und die Entscheidung auf
das Gebiet praktischer Bedürfnisfragen zu verlegen. Hierin wird man einen
der Hauptvorzüge des neuen Systems erblicken dürfen. Die unnatürliche Ver¬
quickung ethischer, religiöser, ökonomischer und staatsrechtlicher Fragen zu einem
allen etwas bietenden, keinem ganz zusagenden politischen Kredo wird einer
Meinungsteilung Platz machen, die umso günstiger auf die Entwicklung politischen
Bewußtseins wirken muß, als sie allen dem Volksleben entspringenden Wünschen
Befriedigung gewährt und zugleich verhindert, daß neue, belebende Gedanken im
Keime erstickt werden.


<I. Wahlhandlung.

Zur Bildung des Reichstages, und zwar für die ganze Dauer der Legislatur¬
periode, genügt ein einmaliger Wahlakt. Alle Stich-, Nach- und Ersatzwahlen
werden entbehrlich und fallen demnach weg. Die Bestimmungen des Gesetzes
vom 31. Mai 1869 und des Reglements vom 28. Mai 1870 betreffend die
Form und Fertigung der Wählerlisten, erleiden keine Veränderung. Auch die
Wahlhandlung vollzieht sich der Hauptsache nach in der bisher vorgeschriebenen
Weise. Das neue System erheischt nur zwei Modifikationen, welche das Ver¬
fahren nicht viel umständlicher machen, für das Wahlergebnis aber von großer
Bedeutung find. Die erste derselben besteht darin, daß an Stelle einer Urne
jetzt sechs auf dem Tische stehen, an welchem der Wahlvvrstand Platz nimmt.
Diese sechs verdeckten Gefäße entsprechen den sechs Berufskategorien und jeder
Wähler ist gehalten, seinen Stimmzettel in diejenige Urne zu legen, welche die


Die proportionale Bernfsklassenwcchl.

Es bleibt demnach als Motiv zum Austritt der politische Meinungswechsel.
In erregten Zeiten wird derselbe allerdings Verschiebungen bewirken. Konfessionelle,
staatsrechtliche und soziale Streitfragen können alsdann Masfencmstritte, Se¬
zessionen und neue Gruppenbildungen hervorrufen. In gewöhnlichen Zeitläufen
aber wird zu Übertritten aus der einen in die andre Meinungsgruppe der Anlaß
fehlen und der demagogischen Wühlerei wie deu Bekehrungsversuchen der Partei¬
agenten der Boden entzogen sein. Dies sichert den Wcchlvercinen eine größere
Kontinuität und gewährt die Möglichkeit, das Parteiprogramm schärfer zu
präzisiren.

Heutzutage nötigt die ausschlaggebende Wichtigkeit der Majorität die Führer
der großen Parteien zu einer Verallgemeinerung ihrer Parteigrundsätze. Da es
gilt, möglichst viel Anhänger zu gewinnen, zeigt das Programm eine phrasen¬
hafte, verschwommene Form, welche bestimmt ist, unter weitgehenden Verheißungen
und mit Aufwendung eines teils überflüssigen, teils veralteten Apparats glänzender
Redensarten und Schlagwörter alle diejenigen anzulocken, denen das gegnerische
Programm noch weniger zusagt. Aus diesem Grunde zählt jede der heutigen
Parteien eine große Menge von Mitgliedern, welche sich nur deshalb angeschlossen
haben, weil es für ihre in vielen Teilen von dem Wahlprogramme abweichenden
Anschauungen keinen Krystallisativnspnnkt gab. Die Berufswahl dagegen ge¬
stattet, die Form abstrakter Postulate zu verlassen und die Entscheidung auf
das Gebiet praktischer Bedürfnisfragen zu verlegen. Hierin wird man einen
der Hauptvorzüge des neuen Systems erblicken dürfen. Die unnatürliche Ver¬
quickung ethischer, religiöser, ökonomischer und staatsrechtlicher Fragen zu einem
allen etwas bietenden, keinem ganz zusagenden politischen Kredo wird einer
Meinungsteilung Platz machen, die umso günstiger auf die Entwicklung politischen
Bewußtseins wirken muß, als sie allen dem Volksleben entspringenden Wünschen
Befriedigung gewährt und zugleich verhindert, daß neue, belebende Gedanken im
Keime erstickt werden.


<I. Wahlhandlung.

Zur Bildung des Reichstages, und zwar für die ganze Dauer der Legislatur¬
periode, genügt ein einmaliger Wahlakt. Alle Stich-, Nach- und Ersatzwahlen
werden entbehrlich und fallen demnach weg. Die Bestimmungen des Gesetzes
vom 31. Mai 1869 und des Reglements vom 28. Mai 1870 betreffend die
Form und Fertigung der Wählerlisten, erleiden keine Veränderung. Auch die
Wahlhandlung vollzieht sich der Hauptsache nach in der bisher vorgeschriebenen
Weise. Das neue System erheischt nur zwei Modifikationen, welche das Ver¬
fahren nicht viel umständlicher machen, für das Wahlergebnis aber von großer
Bedeutung find. Die erste derselben besteht darin, daß an Stelle einer Urne
jetzt sechs auf dem Tische stehen, an welchem der Wahlvvrstand Platz nimmt.
Diese sechs verdeckten Gefäße entsprechen den sechs Berufskategorien und jeder
Wähler ist gehalten, seinen Stimmzettel in diejenige Urne zu legen, welche die


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[0127] Die proportionale Bernfsklassenwcchl. Es bleibt demnach als Motiv zum Austritt der politische Meinungswechsel. In erregten Zeiten wird derselbe allerdings Verschiebungen bewirken. Konfessionelle, staatsrechtliche und soziale Streitfragen können alsdann Masfencmstritte, Se¬ zessionen und neue Gruppenbildungen hervorrufen. In gewöhnlichen Zeitläufen aber wird zu Übertritten aus der einen in die andre Meinungsgruppe der Anlaß fehlen und der demagogischen Wühlerei wie deu Bekehrungsversuchen der Partei¬ agenten der Boden entzogen sein. Dies sichert den Wcchlvercinen eine größere Kontinuität und gewährt die Möglichkeit, das Parteiprogramm schärfer zu präzisiren. Heutzutage nötigt die ausschlaggebende Wichtigkeit der Majorität die Führer der großen Parteien zu einer Verallgemeinerung ihrer Parteigrundsätze. Da es gilt, möglichst viel Anhänger zu gewinnen, zeigt das Programm eine phrasen¬ hafte, verschwommene Form, welche bestimmt ist, unter weitgehenden Verheißungen und mit Aufwendung eines teils überflüssigen, teils veralteten Apparats glänzender Redensarten und Schlagwörter alle diejenigen anzulocken, denen das gegnerische Programm noch weniger zusagt. Aus diesem Grunde zählt jede der heutigen Parteien eine große Menge von Mitgliedern, welche sich nur deshalb angeschlossen haben, weil es für ihre in vielen Teilen von dem Wahlprogramme abweichenden Anschauungen keinen Krystallisativnspnnkt gab. Die Berufswahl dagegen ge¬ stattet, die Form abstrakter Postulate zu verlassen und die Entscheidung auf das Gebiet praktischer Bedürfnisfragen zu verlegen. Hierin wird man einen der Hauptvorzüge des neuen Systems erblicken dürfen. Die unnatürliche Ver¬ quickung ethischer, religiöser, ökonomischer und staatsrechtlicher Fragen zu einem allen etwas bietenden, keinem ganz zusagenden politischen Kredo wird einer Meinungsteilung Platz machen, die umso günstiger auf die Entwicklung politischen Bewußtseins wirken muß, als sie allen dem Volksleben entspringenden Wünschen Befriedigung gewährt und zugleich verhindert, daß neue, belebende Gedanken im Keime erstickt werden. <I. Wahlhandlung. Zur Bildung des Reichstages, und zwar für die ganze Dauer der Legislatur¬ periode, genügt ein einmaliger Wahlakt. Alle Stich-, Nach- und Ersatzwahlen werden entbehrlich und fallen demnach weg. Die Bestimmungen des Gesetzes vom 31. Mai 1869 und des Reglements vom 28. Mai 1870 betreffend die Form und Fertigung der Wählerlisten, erleiden keine Veränderung. Auch die Wahlhandlung vollzieht sich der Hauptsache nach in der bisher vorgeschriebenen Weise. Das neue System erheischt nur zwei Modifikationen, welche das Ver¬ fahren nicht viel umständlicher machen, für das Wahlergebnis aber von großer Bedeutung find. Die erste derselben besteht darin, daß an Stelle einer Urne jetzt sechs auf dem Tische stehen, an welchem der Wahlvvrstand Platz nimmt. Diese sechs verdeckten Gefäße entsprechen den sechs Berufskategorien und jeder Wähler ist gehalten, seinen Stimmzettel in diejenige Urne zu legen, welche die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/127>, abgerufen am 15.01.2025.