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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Zur Prostitutionsfrage.

einander bestanden, aus der Zahl der letztern. Die den letztern gebotene leichte
Möglichkeit zur Verheimlichung solcher Krankheiten sollte allein ausschlaggebend
sein bei der Wahl zwischen der Einrichtung öffentlicher Hänser und dem jetzigen
Zustande.

Aber noch andre bedenkliche Erscheinungen sind unter der Herrschaft der
jetzigen Zustände gezeitigt morden: man sehe nur zu, aus welchen Ständen die
Prostituirten hervorgehen. Es sind zumeist Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen,
Nähterinnen, Putzmacherinnen, vor allein aber Kellnerinnen und Verkäuferinnen.
Die Bezahlung derselben ist derart, daß solche Mädchen thatsächlich nicht davon
existiren können, da insbesondre an Verkäuferinnen, Kellnerinnen ze. die Aliforde¬
rung eines guten, oft luxuriösen Anzuges gestellt und zur Bedingung gemacht
wird. Werden die Mädchen nun schon durch ihre angeborne Eitelkeit dazu ver¬
leitet, für ihre Toilette mehr als nötig ist auszugeben, so geschieht dies infolge
jener Anforderungen noch mehr. Sie gewöhnen sich außerdem in unsrer ge-
nußsüchtigen Zeit daran, Ansprüche ans Leben zu stellen, die bei ehrbaren Ver¬
dienste nicht zu befriedigen sind. Die meisten dieser Mädchen haben niemand,
der ihnen warnend und ratend zur Seite stünde, ja oft sind die Arbeitgeber
selbst so gewissenlos, die Mädchen auf die leichte Möglichkeit hinzuweisen, sich
Geld durch das Sichpreisgeben zu verschaffen. Ist uns doch der Fall vorge¬
kommen, daß ein (jüdischer) Geschäftsinhaber, welchen seine Verkäuferin mit dem
Hinweis auf die notwendige" Gardervbenansgaben um Gehaltszulage angegangen
war, antwortete: "Was wollen Sie denn, Sie haben ja den Abend und die
Nacht für sich!"

Und zu allen diesen Versuchungen tritt nun an diese Mädchen die gefähr¬
lichste in Gestalt des bösen Beispiels heran. Da trifft ein junges, in Geldnot
befindliches Fabrikmädchen oder eine Verkäuferin eine ehemalige Kollegin, mit
der sie bis vor kurzem zusammen gearbeitet hat, auf der Straße. Wie anders
sieht jene jetzt aus! schön angezogen, die Tasche voll Geld, in hübscher, wenn
auch teurer Wohnung einlogirt, macht sie schon äußerlich auf das unerfahrene
oder schwache Gemüt der Arbeiterin einen verlockenden Eindruck. Die selbst Ge¬
sunkene hat selbstverständlich die sucht, möglichst viel andre zu sich herab¬
zuziehen, sei es auch mir, um nicht allein diejenige zu sein, welche als Gefallene
gilt, und so redet sie solange von den goldnen Bergen, bis die andre sich mich
geneigt zeigt, das Laster nur von der goldnen Seite zu betrachten und sich ihm
schließlich selbst mit in die Arme wirft. Sie will ja nur die wenigen Mark¬
stücke, die sie schuldet, auf diese Weise verdienen, dabei und insbesondre nachher
wieder fleißig arbeiten; es merkt es ja auch niemand, und sie kann ja immer
dabei noch als ehrbares Mädchen gelten. Aber schließlich wird sie entweder
trank, oder sie fällt der Polizei in die Hände, oder sie treibt es solange, daß
sie keine Kraft mehr hat, sich reeller Arbeit zuzuwenden, von der ihre "guten
Freundinnen" sie abzuhalten sich auch redlich bemühen -- und der moralische


Zur Prostitutionsfrage.

einander bestanden, aus der Zahl der letztern. Die den letztern gebotene leichte
Möglichkeit zur Verheimlichung solcher Krankheiten sollte allein ausschlaggebend
sein bei der Wahl zwischen der Einrichtung öffentlicher Hänser und dem jetzigen
Zustande.

Aber noch andre bedenkliche Erscheinungen sind unter der Herrschaft der
jetzigen Zustände gezeitigt morden: man sehe nur zu, aus welchen Ständen die
Prostituirten hervorgehen. Es sind zumeist Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen,
Nähterinnen, Putzmacherinnen, vor allein aber Kellnerinnen und Verkäuferinnen.
Die Bezahlung derselben ist derart, daß solche Mädchen thatsächlich nicht davon
existiren können, da insbesondre an Verkäuferinnen, Kellnerinnen ze. die Aliforde¬
rung eines guten, oft luxuriösen Anzuges gestellt und zur Bedingung gemacht
wird. Werden die Mädchen nun schon durch ihre angeborne Eitelkeit dazu ver¬
leitet, für ihre Toilette mehr als nötig ist auszugeben, so geschieht dies infolge
jener Anforderungen noch mehr. Sie gewöhnen sich außerdem in unsrer ge-
nußsüchtigen Zeit daran, Ansprüche ans Leben zu stellen, die bei ehrbaren Ver¬
dienste nicht zu befriedigen sind. Die meisten dieser Mädchen haben niemand,
der ihnen warnend und ratend zur Seite stünde, ja oft sind die Arbeitgeber
selbst so gewissenlos, die Mädchen auf die leichte Möglichkeit hinzuweisen, sich
Geld durch das Sichpreisgeben zu verschaffen. Ist uns doch der Fall vorge¬
kommen, daß ein (jüdischer) Geschäftsinhaber, welchen seine Verkäuferin mit dem
Hinweis auf die notwendige» Gardervbenansgaben um Gehaltszulage angegangen
war, antwortete: „Was wollen Sie denn, Sie haben ja den Abend und die
Nacht für sich!"

Und zu allen diesen Versuchungen tritt nun an diese Mädchen die gefähr¬
lichste in Gestalt des bösen Beispiels heran. Da trifft ein junges, in Geldnot
befindliches Fabrikmädchen oder eine Verkäuferin eine ehemalige Kollegin, mit
der sie bis vor kurzem zusammen gearbeitet hat, auf der Straße. Wie anders
sieht jene jetzt aus! schön angezogen, die Tasche voll Geld, in hübscher, wenn
auch teurer Wohnung einlogirt, macht sie schon äußerlich auf das unerfahrene
oder schwache Gemüt der Arbeiterin einen verlockenden Eindruck. Die selbst Ge¬
sunkene hat selbstverständlich die sucht, möglichst viel andre zu sich herab¬
zuziehen, sei es auch mir, um nicht allein diejenige zu sein, welche als Gefallene
gilt, und so redet sie solange von den goldnen Bergen, bis die andre sich mich
geneigt zeigt, das Laster nur von der goldnen Seite zu betrachten und sich ihm
schließlich selbst mit in die Arme wirft. Sie will ja nur die wenigen Mark¬
stücke, die sie schuldet, auf diese Weise verdienen, dabei und insbesondre nachher
wieder fleißig arbeiten; es merkt es ja auch niemand, und sie kann ja immer
dabei noch als ehrbares Mädchen gelten. Aber schließlich wird sie entweder
trank, oder sie fällt der Polizei in die Hände, oder sie treibt es solange, daß
sie keine Kraft mehr hat, sich reeller Arbeit zuzuwenden, von der ihre „guten
Freundinnen" sie abzuhalten sich auch redlich bemühen — und der moralische


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[0070] Zur Prostitutionsfrage. einander bestanden, aus der Zahl der letztern. Die den letztern gebotene leichte Möglichkeit zur Verheimlichung solcher Krankheiten sollte allein ausschlaggebend sein bei der Wahl zwischen der Einrichtung öffentlicher Hänser und dem jetzigen Zustande. Aber noch andre bedenkliche Erscheinungen sind unter der Herrschaft der jetzigen Zustände gezeitigt morden: man sehe nur zu, aus welchen Ständen die Prostituirten hervorgehen. Es sind zumeist Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen, Nähterinnen, Putzmacherinnen, vor allein aber Kellnerinnen und Verkäuferinnen. Die Bezahlung derselben ist derart, daß solche Mädchen thatsächlich nicht davon existiren können, da insbesondre an Verkäuferinnen, Kellnerinnen ze. die Aliforde¬ rung eines guten, oft luxuriösen Anzuges gestellt und zur Bedingung gemacht wird. Werden die Mädchen nun schon durch ihre angeborne Eitelkeit dazu ver¬ leitet, für ihre Toilette mehr als nötig ist auszugeben, so geschieht dies infolge jener Anforderungen noch mehr. Sie gewöhnen sich außerdem in unsrer ge- nußsüchtigen Zeit daran, Ansprüche ans Leben zu stellen, die bei ehrbaren Ver¬ dienste nicht zu befriedigen sind. Die meisten dieser Mädchen haben niemand, der ihnen warnend und ratend zur Seite stünde, ja oft sind die Arbeitgeber selbst so gewissenlos, die Mädchen auf die leichte Möglichkeit hinzuweisen, sich Geld durch das Sichpreisgeben zu verschaffen. Ist uns doch der Fall vorge¬ kommen, daß ein (jüdischer) Geschäftsinhaber, welchen seine Verkäuferin mit dem Hinweis auf die notwendige» Gardervbenansgaben um Gehaltszulage angegangen war, antwortete: „Was wollen Sie denn, Sie haben ja den Abend und die Nacht für sich!" Und zu allen diesen Versuchungen tritt nun an diese Mädchen die gefähr¬ lichste in Gestalt des bösen Beispiels heran. Da trifft ein junges, in Geldnot befindliches Fabrikmädchen oder eine Verkäuferin eine ehemalige Kollegin, mit der sie bis vor kurzem zusammen gearbeitet hat, auf der Straße. Wie anders sieht jene jetzt aus! schön angezogen, die Tasche voll Geld, in hübscher, wenn auch teurer Wohnung einlogirt, macht sie schon äußerlich auf das unerfahrene oder schwache Gemüt der Arbeiterin einen verlockenden Eindruck. Die selbst Ge¬ sunkene hat selbstverständlich die sucht, möglichst viel andre zu sich herab¬ zuziehen, sei es auch mir, um nicht allein diejenige zu sein, welche als Gefallene gilt, und so redet sie solange von den goldnen Bergen, bis die andre sich mich geneigt zeigt, das Laster nur von der goldnen Seite zu betrachten und sich ihm schließlich selbst mit in die Arme wirft. Sie will ja nur die wenigen Mark¬ stücke, die sie schuldet, auf diese Weise verdienen, dabei und insbesondre nachher wieder fleißig arbeiten; es merkt es ja auch niemand, und sie kann ja immer dabei noch als ehrbares Mädchen gelten. Aber schließlich wird sie entweder trank, oder sie fällt der Polizei in die Hände, oder sie treibt es solange, daß sie keine Kraft mehr hat, sich reeller Arbeit zuzuwenden, von der ihre „guten Freundinnen" sie abzuhalten sich auch redlich bemühen — und der moralische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/70>, abgerufen am 24.11.2024.