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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Zur/ jprostitutionsfrage.

Untergang ist fertig. Das ist der gewöhnliche Gang der Dinge. Solange die
Prostituirten abgeschlossen von dem übrigen Teile der weiblichen Bevölkerung
leben, wird die Versuchung an die moralisch Gesunden weit weniger herantreten.
Jedes nur einigermaßen sittlich denkende Mädchen, und wenn sie noch so arm
ist, wird lieber ihre ganze Kraft zusammennehmen, um auf redliche Weise sich
durchs Leben zu schlagen, als sich freiwillig in ein öffentliches Haus zu begeben
und sich dort der Schande preiszugeben. Sie hat auch garnicht der Verlockung
in dem Maße wie' jetzt zu widerstehen, wo das Laster unter der Maske eines er¬
laubten "Gewerbes" offen betrieben wird, und ihr Abscheu davor ist umso größer,
als sie sich sagt, daß eine Umkehr nach dem Aufenthalte in einem öffentlichen
Hause kaum denkbar ist. Diejenigen aber, die sich trotzdem dahin begeben, find
überhaupt nicht aufzuhalten, bei ihnen sind andre Triebfedern im Spiel als die
Geldnot; hier ist dann der Punkt, wo die Magdalenensache ihr Arbeitsfeld findet.

Nicht minder gefährlich aber als für die weibliche Jugend ist das Wohnen
der Prostituirten in Privatlogis für die öffentliche, die Vvlkssittlichkeit. Es
sind keineswegs immer moralisch gesunkene Familien und Personen, welche den
Prostituirten Obdach gewähren, im Gegenteil, es sind meist arme, dnrch zahl
reichen Kindersegen in bedrängte Lage geratene, die sich dnrch Abgabe eines
Zimmers an ein "Fräulein" für hohen Preis einen Nebenverdienst verschaffen
wollen, im übrigen aber völlig rechtlich dastehen. Durch die Berührung mit
jenen Weibspersonen jedoch und den täglichen Anblick ihres Gebahrens wird
notwendigerweise das in ihnen vorhandene sittliche Gefühl abgestumpft, in den
mindern der Wirtsleute oder sonstiger Hausbewohner aber nur gar zu oft von
Anfang an erstickt. Was Wunder, wenn die Töchter solcher Leute später, ohne
sich etwas schlimmes dabei zu denken, auch solche "Fräulein" werden?

Schließlich mag auf den llbclstand hingewiesen werden, der in allen großen
Stüdteu sich fühlbar macht, daß nämlich die Prostituirten, welche vereinzelt wohnen,
genötigt sind, zu ihrer eignen Sicherheit (denn sie werden nicht selten von ihren
Besuchern gemißhandelt, bestohlen ?e.) sich mit einem oder mehreren Zuhältern,
"Geliebten" einzulassen. Die Zahl dieser erbärmlichen Subjekte, die sich auf
die Bärenhaut legen und sich von den Prostituirten für ihre "Ritterdienste"
in der Regel sehr gut unterhalten lassen, ist seit dem Bestehen der jetzigen Gesetz
gebung erschreckend gewachsen. Sie rekrntiren sich ans faulen Arbeitern, ver¬
bummelten oder durch Bestrafungen heruntergekommenen Kommis und andern,
selbst deu bessern Ständen ungehörigen Personen und bilden gegenüber der Polizei
eine geschlossene Phalanx, hinter deren Schutze sich noch alle möglichen andern
Existenzen verbergen, welche Grund haben, sich dem Auge des Gesetzes zu ent¬
ziehen, ganz zu schweigen davon, daß aus der Zahl dieser Zuhälter selbst eine
ansehnliche Reihe von Verbrechern hervorgeht.

Alle im vorstehenden gezeichneten Mißstände lassen sich beseitigen oder
wenigstens auf das geringste Maß zurückführen, wenn man sich entschließen


Zur/ jprostitutionsfrage.

Untergang ist fertig. Das ist der gewöhnliche Gang der Dinge. Solange die
Prostituirten abgeschlossen von dem übrigen Teile der weiblichen Bevölkerung
leben, wird die Versuchung an die moralisch Gesunden weit weniger herantreten.
Jedes nur einigermaßen sittlich denkende Mädchen, und wenn sie noch so arm
ist, wird lieber ihre ganze Kraft zusammennehmen, um auf redliche Weise sich
durchs Leben zu schlagen, als sich freiwillig in ein öffentliches Haus zu begeben
und sich dort der Schande preiszugeben. Sie hat auch garnicht der Verlockung
in dem Maße wie' jetzt zu widerstehen, wo das Laster unter der Maske eines er¬
laubten „Gewerbes" offen betrieben wird, und ihr Abscheu davor ist umso größer,
als sie sich sagt, daß eine Umkehr nach dem Aufenthalte in einem öffentlichen
Hause kaum denkbar ist. Diejenigen aber, die sich trotzdem dahin begeben, find
überhaupt nicht aufzuhalten, bei ihnen sind andre Triebfedern im Spiel als die
Geldnot; hier ist dann der Punkt, wo die Magdalenensache ihr Arbeitsfeld findet.

Nicht minder gefährlich aber als für die weibliche Jugend ist das Wohnen
der Prostituirten in Privatlogis für die öffentliche, die Vvlkssittlichkeit. Es
sind keineswegs immer moralisch gesunkene Familien und Personen, welche den
Prostituirten Obdach gewähren, im Gegenteil, es sind meist arme, dnrch zahl
reichen Kindersegen in bedrängte Lage geratene, die sich dnrch Abgabe eines
Zimmers an ein „Fräulein" für hohen Preis einen Nebenverdienst verschaffen
wollen, im übrigen aber völlig rechtlich dastehen. Durch die Berührung mit
jenen Weibspersonen jedoch und den täglichen Anblick ihres Gebahrens wird
notwendigerweise das in ihnen vorhandene sittliche Gefühl abgestumpft, in den
mindern der Wirtsleute oder sonstiger Hausbewohner aber nur gar zu oft von
Anfang an erstickt. Was Wunder, wenn die Töchter solcher Leute später, ohne
sich etwas schlimmes dabei zu denken, auch solche „Fräulein" werden?

Schließlich mag auf den llbclstand hingewiesen werden, der in allen großen
Stüdteu sich fühlbar macht, daß nämlich die Prostituirten, welche vereinzelt wohnen,
genötigt sind, zu ihrer eignen Sicherheit (denn sie werden nicht selten von ihren
Besuchern gemißhandelt, bestohlen ?e.) sich mit einem oder mehreren Zuhältern,
„Geliebten" einzulassen. Die Zahl dieser erbärmlichen Subjekte, die sich auf
die Bärenhaut legen und sich von den Prostituirten für ihre „Ritterdienste"
in der Regel sehr gut unterhalten lassen, ist seit dem Bestehen der jetzigen Gesetz
gebung erschreckend gewachsen. Sie rekrntiren sich ans faulen Arbeitern, ver¬
bummelten oder durch Bestrafungen heruntergekommenen Kommis und andern,
selbst deu bessern Ständen ungehörigen Personen und bilden gegenüber der Polizei
eine geschlossene Phalanx, hinter deren Schutze sich noch alle möglichen andern
Existenzen verbergen, welche Grund haben, sich dem Auge des Gesetzes zu ent¬
ziehen, ganz zu schweigen davon, daß aus der Zahl dieser Zuhälter selbst eine
ansehnliche Reihe von Verbrechern hervorgeht.

Alle im vorstehenden gezeichneten Mißstände lassen sich beseitigen oder
wenigstens auf das geringste Maß zurückführen, wenn man sich entschließen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/71>, abgerufen am 24.11.2024.