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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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(ostpreußische Skizzen.

solche Aufrufe, aus denen sich alles und nichts herauslesen ließ, sehr wirksam
waren, der wird auch glauben können, was ihm sonst freilich als unglaublich er¬
scheinen müßte: daß es nennt heute noch ostpreußische Rittergutsbesitzer giebt, die
einfach nicht wissen, um was es sich handelt. Wir hatten selbst Gelegen¬
heit, einem Gespräche zuzuhören, in dein einer dieser Herren darüber jammerte,
daß zu allen Steuern nun auch noch der neue Getreidezoll getreten sei und
die Gutsbesitzer drücke. Man bedenke, daß diese" Leuten seit Jahr und Tag
alle politischen Fragen immer nur durch eine bestimmte Brille gezeigt worden
sind, daß die Fähigkeit, den parlamentarischen Verhandlungen, dem Wortlaut
der Gesetze, ja auch nur den ernstern, tiefergehenden Deduktionen der Tages-
blätter zu folgen, vielen derselben gänzlich fehlt, daß sie sich nach kleinlichen
persönlichen Gehässigkeiten und gelegentlichen Rencontres ihre Stellung zur
ganzen Politik zurechtlegen -- um zu begreifen, daß die großen Tagesfragen
zahlreichen, selbst größern Besitzern garnicht als solche, ihrem Zweck und Wesen
nach, sondern nur als Schattenbilder ans dem dunkeln Hintergrunde einer all¬
gemeinen politischen Verbissenheit zum Bewußtsein kommen. Dringt in diese
verbitterten Gemüter einmal ein Lichtstrahl, so schließen sie eher gewaltsam die
Augen, als daß sie sich belehren lassen. Nicht wenigen geht es ganz ähnlich
wie den Handwerkern, welche mit den Konservativen grollen, weil diese ihnen
nicht ohne weiteres die obligatorische Innung geben wollen, und darum lieber
fortschrittlich wählen; sie schimpfen über Freizügigkeit, Hausirwesen, Gemeinde¬
lasten ?c. wie der dickköpfigste Konservative und thun dann gerade so, als ob
das alles von der jetzigen Wirtschaftspolitik herkomme. Ja es kann verbürgt
werden, daß folgender unglaubliche Fall vor kurzem vorgekommen ist: ein fort¬
schrittlicher Gutsbesitzer erklärte, was er dem Bismarck niemals verzeihen könne,
und was ihn (den Sprecher) auf ewig zu dessen politischem Gegner mache, das
sei -- die Einführung des allgemeinen Stimmrechts!

Aussicht auf Dauer haben diese an Wahnwitz streifenden Querköpfigkeiten
allerdings nicht; aber sie können einem eine schöne Zeit lang das Leben sauer
machen. Denn die Macht der Gewohnheit ist so groß, daß sie auch für solche
Dinge in Betracht kommt; man hat seine ganze Vorstellungsweise auf gewisse
Gesichtspunkte hin gerichtet, hat sich an einen bestimmten Umgang gewöhnt,
hat aus tausend kleinen Vorkommnissen eine Masse von Groll gegen die poli¬
tischen Gegner angesammelt, und kann nun, so unbehagliche Empfindungen man
auch bei dieser oder jener Angelegenheit hat, als ob man sich doch eigentlich selbst
die Nase abschnitte, nicht loskommen. notorisch ist, daß zahlreiche, innerlich längst
zum Hinüberschreiten nach rechts reif gewordne Besitzer nur darum auf
ihrer bisherigen Seite bleiben, weil sie andernfalls ihre gewohnte Skatpartie
mit dem und dem verlieren würden, denen es ihrerseits vielleicht ebenso geht;
nnr hat keiner den Mut, anzufangen. Den gewohnten geselligen Verkehr auf¬
zugeben und sich einen andern suchen zu sollen, ist aber in Ostpreußen eine


(ostpreußische Skizzen.

solche Aufrufe, aus denen sich alles und nichts herauslesen ließ, sehr wirksam
waren, der wird auch glauben können, was ihm sonst freilich als unglaublich er¬
scheinen müßte: daß es nennt heute noch ostpreußische Rittergutsbesitzer giebt, die
einfach nicht wissen, um was es sich handelt. Wir hatten selbst Gelegen¬
heit, einem Gespräche zuzuhören, in dein einer dieser Herren darüber jammerte,
daß zu allen Steuern nun auch noch der neue Getreidezoll getreten sei und
die Gutsbesitzer drücke. Man bedenke, daß diese» Leuten seit Jahr und Tag
alle politischen Fragen immer nur durch eine bestimmte Brille gezeigt worden
sind, daß die Fähigkeit, den parlamentarischen Verhandlungen, dem Wortlaut
der Gesetze, ja auch nur den ernstern, tiefergehenden Deduktionen der Tages-
blätter zu folgen, vielen derselben gänzlich fehlt, daß sie sich nach kleinlichen
persönlichen Gehässigkeiten und gelegentlichen Rencontres ihre Stellung zur
ganzen Politik zurechtlegen — um zu begreifen, daß die großen Tagesfragen
zahlreichen, selbst größern Besitzern garnicht als solche, ihrem Zweck und Wesen
nach, sondern nur als Schattenbilder ans dem dunkeln Hintergrunde einer all¬
gemeinen politischen Verbissenheit zum Bewußtsein kommen. Dringt in diese
verbitterten Gemüter einmal ein Lichtstrahl, so schließen sie eher gewaltsam die
Augen, als daß sie sich belehren lassen. Nicht wenigen geht es ganz ähnlich
wie den Handwerkern, welche mit den Konservativen grollen, weil diese ihnen
nicht ohne weiteres die obligatorische Innung geben wollen, und darum lieber
fortschrittlich wählen; sie schimpfen über Freizügigkeit, Hausirwesen, Gemeinde¬
lasten ?c. wie der dickköpfigste Konservative und thun dann gerade so, als ob
das alles von der jetzigen Wirtschaftspolitik herkomme. Ja es kann verbürgt
werden, daß folgender unglaubliche Fall vor kurzem vorgekommen ist: ein fort¬
schrittlicher Gutsbesitzer erklärte, was er dem Bismarck niemals verzeihen könne,
und was ihn (den Sprecher) auf ewig zu dessen politischem Gegner mache, das
sei — die Einführung des allgemeinen Stimmrechts!

Aussicht auf Dauer haben diese an Wahnwitz streifenden Querköpfigkeiten
allerdings nicht; aber sie können einem eine schöne Zeit lang das Leben sauer
machen. Denn die Macht der Gewohnheit ist so groß, daß sie auch für solche
Dinge in Betracht kommt; man hat seine ganze Vorstellungsweise auf gewisse
Gesichtspunkte hin gerichtet, hat sich an einen bestimmten Umgang gewöhnt,
hat aus tausend kleinen Vorkommnissen eine Masse von Groll gegen die poli¬
tischen Gegner angesammelt, und kann nun, so unbehagliche Empfindungen man
auch bei dieser oder jener Angelegenheit hat, als ob man sich doch eigentlich selbst
die Nase abschnitte, nicht loskommen. notorisch ist, daß zahlreiche, innerlich längst
zum Hinüberschreiten nach rechts reif gewordne Besitzer nur darum auf
ihrer bisherigen Seite bleiben, weil sie andernfalls ihre gewohnte Skatpartie
mit dem und dem verlieren würden, denen es ihrerseits vielleicht ebenso geht;
nnr hat keiner den Mut, anzufangen. Den gewohnten geselligen Verkehr auf¬
zugeben und sich einen andern suchen zu sollen, ist aber in Ostpreußen eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/61>, abgerufen am 24.11.2024.