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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Neuere Literatur über Nordamerika,

nehmen die meisten Industrien teil. Die massenhafte Einwanderung von Lohn¬
arbeitern aus Europa und Kanada ist sür die schon vorhandenen eine große
Last und muß die Lohne Herabdrücken."

Das letztgenannte Werk ist von den drei hier zu besprechenden in mancher
Beziehung das beste. Es ist am angenehmsten zu lesen und am wenigsten
lückenhaft. Der Verfasser ist in vielen Richtungen in das Leben der Vereinigten
Staaten eingedrungen. Er hat sein über 600 Seiten starkes Buch in zehn Ab¬
schnitte eingeteilt. Im ersten behandelt er die Lage und die Verhältnisse bei den
Farmern, in Gewerbe, Industrie und Handel. Die folgenden betreffen die Na¬
tional- und Staatenregierungen, Armee und Marine, Eisenbahnen und Schiff¬
fahrt, Städte und Städteleben. Die spätern Abschnitte enthalten kritisch-reflek-
tirende Rückblicke und Ausblicke, z. B-: Was sind die Aussichten der Auswanderung
in die Vereinigten Staaten; was ist die Zukunftsperspektive der Vereinigten
Staaten? Der Verfasser wollte "das Wichtigste aus dem vielseitigen amerika¬
nischen Leben herausnehmen und in großem Stile sich darüber verbreiten."
Das hat er wirklich gethan. So massenhaft das Detail ist und so sehr er sich
zuweilen in feuilletonistischer Manier gehen läßt, so wird er doch immer wieder
Herr über die Masse und erhebt sich von Zeit z" Zeit zu kühnen Höhen mit
gedankenreichen Aussichten. Der Verfasser bestätigt völlig, was die Deutsch¬
amerikaner des vorigen Buches über die amerikanischen öffentlichen Zustände offen
dargelegt haben, als unabhängiger Fremder erlaubt er sich noch weiter zu gehen
und schonungslos die Blößen des amerikanischen Weltreiches, das seit dein Bürger¬
kriege immer mehr der Ptutokratie und dein Götzeubilde der Anarchie entgegen¬
treibt, aufzudecken. Die Schilderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Typen gelingt dem Verfasser vorzüglich; wir verweisen nur auf seine Schilde¬
rung des wucherische"! Laudkrämers, des beschäftigungslosen Kopfarbeiters, des
Spekulautentums in seinen verschiednen Arten, vom Jobber bis zum Hausirer.
Als Freund der Produzireuden Stände beurteilt er den amerikanischen Handels¬
stand sehr streng. Der Handel in der Union erscheint ihm zum größten Teile
"nichts als ein geistiger Kampf gegenseitiger Übervorteilung." Die Urgesund-
heit der Verhältnisse erkennt er darin, daß der produzirende Teil im Volke der
Vereinigten Staaten immer mehr zurückgegangen ist, der zehrende Teil, die
Drohnen, immer mehr zugenommen hat. Für den Arbeiter, Handwerker und
Landwirt dagegen hat der Verfasser die regste Teilnahme; in dem bessern Hand¬
werkerstande, in der gediegenen Mittelklasse des Besitzes und in der weißen Land¬
bevölkerung erblickt er den einzigen soliden Kern der Bewohner der amerikanischen
Nation. Sie sind es, von denen in den gegenwärtigen trostlosen Verhältnissen
eine bessere Zukunft zu erwarten ist. Mit großer Achtung spricht er von dem
außerordentlichen Fortschritt in der Schulbildung auf dem Lande, sodaß die
jüngere Generation daselbst hinsichtlich der Bildung der Städtebevölkeruug nahezu
ebenbürtig geworden ist. Der vielfach zu sehr uach dem Beispiel der "obern


Neuere Literatur über Nordamerika,

nehmen die meisten Industrien teil. Die massenhafte Einwanderung von Lohn¬
arbeitern aus Europa und Kanada ist sür die schon vorhandenen eine große
Last und muß die Lohne Herabdrücken."

Das letztgenannte Werk ist von den drei hier zu besprechenden in mancher
Beziehung das beste. Es ist am angenehmsten zu lesen und am wenigsten
lückenhaft. Der Verfasser ist in vielen Richtungen in das Leben der Vereinigten
Staaten eingedrungen. Er hat sein über 600 Seiten starkes Buch in zehn Ab¬
schnitte eingeteilt. Im ersten behandelt er die Lage und die Verhältnisse bei den
Farmern, in Gewerbe, Industrie und Handel. Die folgenden betreffen die Na¬
tional- und Staatenregierungen, Armee und Marine, Eisenbahnen und Schiff¬
fahrt, Städte und Städteleben. Die spätern Abschnitte enthalten kritisch-reflek-
tirende Rückblicke und Ausblicke, z. B-: Was sind die Aussichten der Auswanderung
in die Vereinigten Staaten; was ist die Zukunftsperspektive der Vereinigten
Staaten? Der Verfasser wollte „das Wichtigste aus dem vielseitigen amerika¬
nischen Leben herausnehmen und in großem Stile sich darüber verbreiten."
Das hat er wirklich gethan. So massenhaft das Detail ist und so sehr er sich
zuweilen in feuilletonistischer Manier gehen läßt, so wird er doch immer wieder
Herr über die Masse und erhebt sich von Zeit z» Zeit zu kühnen Höhen mit
gedankenreichen Aussichten. Der Verfasser bestätigt völlig, was die Deutsch¬
amerikaner des vorigen Buches über die amerikanischen öffentlichen Zustände offen
dargelegt haben, als unabhängiger Fremder erlaubt er sich noch weiter zu gehen
und schonungslos die Blößen des amerikanischen Weltreiches, das seit dein Bürger¬
kriege immer mehr der Ptutokratie und dein Götzeubilde der Anarchie entgegen¬
treibt, aufzudecken. Die Schilderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Typen gelingt dem Verfasser vorzüglich; wir verweisen nur auf seine Schilde¬
rung des wucherische«! Laudkrämers, des beschäftigungslosen Kopfarbeiters, des
Spekulautentums in seinen verschiednen Arten, vom Jobber bis zum Hausirer.
Als Freund der Produzireuden Stände beurteilt er den amerikanischen Handels¬
stand sehr streng. Der Handel in der Union erscheint ihm zum größten Teile
„nichts als ein geistiger Kampf gegenseitiger Übervorteilung." Die Urgesund-
heit der Verhältnisse erkennt er darin, daß der produzirende Teil im Volke der
Vereinigten Staaten immer mehr zurückgegangen ist, der zehrende Teil, die
Drohnen, immer mehr zugenommen hat. Für den Arbeiter, Handwerker und
Landwirt dagegen hat der Verfasser die regste Teilnahme; in dem bessern Hand¬
werkerstande, in der gediegenen Mittelklasse des Besitzes und in der weißen Land¬
bevölkerung erblickt er den einzigen soliden Kern der Bewohner der amerikanischen
Nation. Sie sind es, von denen in den gegenwärtigen trostlosen Verhältnissen
eine bessere Zukunft zu erwarten ist. Mit großer Achtung spricht er von dem
außerordentlichen Fortschritt in der Schulbildung auf dem Lande, sodaß die
jüngere Generation daselbst hinsichtlich der Bildung der Städtebevölkeruug nahezu
ebenbürtig geworden ist. Der vielfach zu sehr uach dem Beispiel der „obern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/590>, abgerufen am 28.07.2024.