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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Zehntausend" beurteilten amerikanischen Frau läßt er alle Gerechtigkeit widerfahren;
Frauen und Töchter der Handwerker sieht er "in mancher Beziehung höher
stehen als das in individueller Selbständigkeit unterdrückte Weib Europas."
Auch sonst sehlt es an anerkennenden Betrachtungen des amerikanischen Volks-
tums nicht.

Außer dem unlautern Handel ist der Verfasser namentlich dem heuchlerischen
Religionswesen abhold. Er weist ausführlich nach, in wie inniger Durchdringung
mit den egoistischen und materiellen Interessen das amerikanische Kirchentum
steht. In dieser Hinsicht ist er zu der Schlußfolgerung gelangt, "daß infolge
des so intensiv gestalteten harten Lebenskampfes, des eigentümlichen Verwebt¬
seins der verschiednen religiösen Kulte mit dem politischen, geschäftlichen und
gesellschaftlichen Leben, der Sitten, Charaktereigenschaften und des Nerven¬
zustandes der Bevölkerung der Union, die Erscheinung des vielfach ver¬
mehrten Kirchenbesuches und der erhöhten Andachtsübungen hervorgerufen wird,
bei dem aber die wirkliche, wahrhafte Religiösitcit den kleinsten Prozentsatz
bildet."

Eine Eigentümlichkeit des Verfassers ist es, von Zeit zu Zeit die ge¬
wonnenen Ergebnisse in einigen verallgemeinernden Sätzen zusammenzufassen. Das
hat er auch am Schlüsse der hauptsächlichsten Abschnitte gethan. Wir geben
zugleich eine Probe seiner Schreibweise, indem wir nachstehendes übersichtliche End-
urteil des Verfassers wiedergeben: "Die Vereinigten Staaten -- sagt er -- sind in
jeder Beziehung zwar ein rapid schnell emporgeschossenes, Europa selbst in manchem
vorausgeeiltes, aber immer noch höchst unfertiges Gebilde, mit den nllergrellften po¬
litischen und sozialen Gegensätzen, mit den größten Vorzügen und tiefsten Mängeln,
welches sich erst ausgühreu, konsolidiren, krystallisiren muß! Seine einstigen enor¬
men totliegcnden Naturschätze sind, soweit sie dnrch einfache Händearbeit, ohne
Kapital und Maschinen zu erringen waren, größtenteils ausgebeutet, der Nest, ob¬
wohl noch immer unermeßlich, bedarf zu seiner Hebung heutzutage schon die(?)
äußerste Anwendung gewaltiger Kapitalkräfte und der vollendeten Technik. Dieser
Thatsache gegenüber ist gegenwärtig der einzelne Mann, welcher nichts besitzt
als seinen gesunden kräftigen Körper, beinahe ohnmächtig! Das einstige Phantom
des "Goldlandcs" ist geschwunden, und dem gegenüber steht die nackte Wirklich¬
keit, die sich darin charakterisirt, daß sich das Kapital, in immer weniger Hände
konzentrirt, die Herrschaft im Lande nach jeder Richtung vollkommen an sich
gerissen hat, den Arbeitsmarkt auf das egoistischste und oft unreellste ausbeutet,
es dem Besitzlosen, dem kleinen Manne fast unmöglich macht, unter diesem Hoch¬
druck bei normalen Verhältnissen materiellen Wohlstand zu erringen, und daher
eine immer größere Vermehrung des Pauperismus zur Folge hat, der vielfach
im schrecklichsten Elend schmachtet!" (!)

In stilistischer Hinsicht zeichnet sich das Buch durch eine gewisse Bered¬
samkeit aus; doch ist der Verfasser ziemlich flüchtig zu Werke gegangen, er hat


Zehntausend" beurteilten amerikanischen Frau läßt er alle Gerechtigkeit widerfahren;
Frauen und Töchter der Handwerker sieht er „in mancher Beziehung höher
stehen als das in individueller Selbständigkeit unterdrückte Weib Europas."
Auch sonst sehlt es an anerkennenden Betrachtungen des amerikanischen Volks-
tums nicht.

Außer dem unlautern Handel ist der Verfasser namentlich dem heuchlerischen
Religionswesen abhold. Er weist ausführlich nach, in wie inniger Durchdringung
mit den egoistischen und materiellen Interessen das amerikanische Kirchentum
steht. In dieser Hinsicht ist er zu der Schlußfolgerung gelangt, „daß infolge
des so intensiv gestalteten harten Lebenskampfes, des eigentümlichen Verwebt¬
seins der verschiednen religiösen Kulte mit dem politischen, geschäftlichen und
gesellschaftlichen Leben, der Sitten, Charaktereigenschaften und des Nerven¬
zustandes der Bevölkerung der Union, die Erscheinung des vielfach ver¬
mehrten Kirchenbesuches und der erhöhten Andachtsübungen hervorgerufen wird,
bei dem aber die wirkliche, wahrhafte Religiösitcit den kleinsten Prozentsatz
bildet."

Eine Eigentümlichkeit des Verfassers ist es, von Zeit zu Zeit die ge¬
wonnenen Ergebnisse in einigen verallgemeinernden Sätzen zusammenzufassen. Das
hat er auch am Schlüsse der hauptsächlichsten Abschnitte gethan. Wir geben
zugleich eine Probe seiner Schreibweise, indem wir nachstehendes übersichtliche End-
urteil des Verfassers wiedergeben: „Die Vereinigten Staaten — sagt er — sind in
jeder Beziehung zwar ein rapid schnell emporgeschossenes, Europa selbst in manchem
vorausgeeiltes, aber immer noch höchst unfertiges Gebilde, mit den nllergrellften po¬
litischen und sozialen Gegensätzen, mit den größten Vorzügen und tiefsten Mängeln,
welches sich erst ausgühreu, konsolidiren, krystallisiren muß! Seine einstigen enor¬
men totliegcnden Naturschätze sind, soweit sie dnrch einfache Händearbeit, ohne
Kapital und Maschinen zu erringen waren, größtenteils ausgebeutet, der Nest, ob¬
wohl noch immer unermeßlich, bedarf zu seiner Hebung heutzutage schon die(?)
äußerste Anwendung gewaltiger Kapitalkräfte und der vollendeten Technik. Dieser
Thatsache gegenüber ist gegenwärtig der einzelne Mann, welcher nichts besitzt
als seinen gesunden kräftigen Körper, beinahe ohnmächtig! Das einstige Phantom
des »Goldlandcs« ist geschwunden, und dem gegenüber steht die nackte Wirklich¬
keit, die sich darin charakterisirt, daß sich das Kapital, in immer weniger Hände
konzentrirt, die Herrschaft im Lande nach jeder Richtung vollkommen an sich
gerissen hat, den Arbeitsmarkt auf das egoistischste und oft unreellste ausbeutet,
es dem Besitzlosen, dem kleinen Manne fast unmöglich macht, unter diesem Hoch¬
druck bei normalen Verhältnissen materiellen Wohlstand zu erringen, und daher
eine immer größere Vermehrung des Pauperismus zur Folge hat, der vielfach
im schrecklichsten Elend schmachtet!" (!)

In stilistischer Hinsicht zeichnet sich das Buch durch eine gewisse Bered¬
samkeit aus; doch ist der Verfasser ziemlich flüchtig zu Werke gegangen, er hat


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/591>, abgerufen am 27.07.2024.