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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Die Handwerkerbewegnng und ihr mögliches Ziel.

Werter diese Erfahrung in vollem Umfange machen, und daß das bischen mo¬
ralischer und sozialer Kraft, über welches das Handwerk gegenwärtig noch ver¬
fügt, bis auf ein Minimum geschwunden sei, ehe man den Mut findet, das
erlösende Wort zu sprechen und mit diesem Losungsworte die wirkliche, reelle,
erfolgverheißcnde Arbeit in Angriff zu nehmen?

Dieses Wort heißt Genossen Mast. Dem schmeichlerischen Traume, die
kapitalistische Betriebsform überwinden und dabei doch ihre volle kleingewerbliche
Selbständigkeit bewahren zu können, müssen die Handwerker entsagen. Sie haben
nicht etwa dazwischen die Wahl, ob jene, zur Zeit so mächtig vordringende Be¬
triebsform zur Herrschaft gelangen soll oder ob einzelne kleine Handwerker wieder
zu Kraft und Ehren kommen, sondern nur dazwischen, ob sie ihre wirtschaftliche
Selbständigkeit scheinbar noch eine Zeitlang behaupten und währenddem umso
sicherer in thatsächliche, immer schlimmer werdende Abhängigkeit von Kapital und
Großindustrie kommen wollen, oder ob sie freiwillig ihre, oft so zweifelhafte
und ohnehin nicht aufrecht zu erhaltende Selbständigkeit zum Teil einer Ge¬
meinschaft, der sie selbst angehören, opfern wollen. Die Frage, ob die Hand¬
werker dies begreifen und den moralische" Mut finden, demgemäß zu handeln,
ist die Frage nach der möglichen Rettung und der Zukunft des Handwerks.
Die ,,Innung" ohne wirtschaftlichen Gehalt ist ein Geist ohne Körper. Die
Innung des Mittelalters wurde keineswegs bloß durch den Gemeinsinn ihrer
Mitglieder getragen und entwickelt, sondern sie hatte eine sehr reale Bedeutung;
sie bildete für den Handwerker das, was für den Stadtbürger seine Stadtmauer
und sein Stadtrecht war: die feste Umgrenzung zu Schutz und Trutz seiner Rechte
und seiner ganzen bürgerlichen Stellung. In Wirklichkeit kann man die damalige
Innung als die soziale Heimat ihrer Mitglieder bezeichnen. Das ist heute weder
mehr möglich noch nötig, wohl aber ist es, wenn die Innung wieder eine ähn¬
liche Bedeutung wie damals für die Handwerker haben soll, auch unerläßlich,
ihr wieder einen ähnlichen Inhalt zu geben. Mit bloßen Redensarten aber ist
das ebensowenig zu machen, wie sich mit den Worten "Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit" die ideale Republik Herstellen ließ, und so vortrefflich alle Lehr¬
lings- und Geselleneinrichtnngcn, so sachgemäß alle Unterhaltungen der Hand¬
werker über Submissionswesen, Gefängnisarbeit, Rechtsverhältnisse der Hand¬
werker ze. sein mögen, so sind doch alle diese, wesentlich immer nur auf den:
guten Willen der Einzelnen fußender Einrichtungen nicht geeignet, der Innung
gerade das zu geben, was sie braucht: eine Gewalt nach innen und nach außen,
einen ständigen, gesicherten, unwiderstehlichen Einfluß auf alle ihre Mitglieder,
eine Möglichkeit, die gesamten Kräfte der Einzelnen für die Zwecke der Ge¬
samtheit zusammenzufassen. Erst wenn sie dies erlangt, hat der umher¬
spukende Geist der .Handwerkersache und der Versuch, an Stelle der kapi¬
talistisch - grvßiudustrielleu Betriebsweise die modern-handwerkliche zu setzen,
seinen Körper gefunden. Die Innung muß selbst zur Genossenschaft werden,


Grenzboten III. 188S, 51
Die Handwerkerbewegnng und ihr mögliches Ziel.

Werter diese Erfahrung in vollem Umfange machen, und daß das bischen mo¬
ralischer und sozialer Kraft, über welches das Handwerk gegenwärtig noch ver¬
fügt, bis auf ein Minimum geschwunden sei, ehe man den Mut findet, das
erlösende Wort zu sprechen und mit diesem Losungsworte die wirkliche, reelle,
erfolgverheißcnde Arbeit in Angriff zu nehmen?

Dieses Wort heißt Genossen Mast. Dem schmeichlerischen Traume, die
kapitalistische Betriebsform überwinden und dabei doch ihre volle kleingewerbliche
Selbständigkeit bewahren zu können, müssen die Handwerker entsagen. Sie haben
nicht etwa dazwischen die Wahl, ob jene, zur Zeit so mächtig vordringende Be¬
triebsform zur Herrschaft gelangen soll oder ob einzelne kleine Handwerker wieder
zu Kraft und Ehren kommen, sondern nur dazwischen, ob sie ihre wirtschaftliche
Selbständigkeit scheinbar noch eine Zeitlang behaupten und währenddem umso
sicherer in thatsächliche, immer schlimmer werdende Abhängigkeit von Kapital und
Großindustrie kommen wollen, oder ob sie freiwillig ihre, oft so zweifelhafte
und ohnehin nicht aufrecht zu erhaltende Selbständigkeit zum Teil einer Ge¬
meinschaft, der sie selbst angehören, opfern wollen. Die Frage, ob die Hand¬
werker dies begreifen und den moralische» Mut finden, demgemäß zu handeln,
ist die Frage nach der möglichen Rettung und der Zukunft des Handwerks.
Die ,,Innung" ohne wirtschaftlichen Gehalt ist ein Geist ohne Körper. Die
Innung des Mittelalters wurde keineswegs bloß durch den Gemeinsinn ihrer
Mitglieder getragen und entwickelt, sondern sie hatte eine sehr reale Bedeutung;
sie bildete für den Handwerker das, was für den Stadtbürger seine Stadtmauer
und sein Stadtrecht war: die feste Umgrenzung zu Schutz und Trutz seiner Rechte
und seiner ganzen bürgerlichen Stellung. In Wirklichkeit kann man die damalige
Innung als die soziale Heimat ihrer Mitglieder bezeichnen. Das ist heute weder
mehr möglich noch nötig, wohl aber ist es, wenn die Innung wieder eine ähn¬
liche Bedeutung wie damals für die Handwerker haben soll, auch unerläßlich,
ihr wieder einen ähnlichen Inhalt zu geben. Mit bloßen Redensarten aber ist
das ebensowenig zu machen, wie sich mit den Worten „Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit" die ideale Republik Herstellen ließ, und so vortrefflich alle Lehr¬
lings- und Geselleneinrichtnngcn, so sachgemäß alle Unterhaltungen der Hand¬
werker über Submissionswesen, Gefängnisarbeit, Rechtsverhältnisse der Hand¬
werker ze. sein mögen, so sind doch alle diese, wesentlich immer nur auf den:
guten Willen der Einzelnen fußender Einrichtungen nicht geeignet, der Innung
gerade das zu geben, was sie braucht: eine Gewalt nach innen und nach außen,
einen ständigen, gesicherten, unwiderstehlichen Einfluß auf alle ihre Mitglieder,
eine Möglichkeit, die gesamten Kräfte der Einzelnen für die Zwecke der Ge¬
samtheit zusammenzufassen. Erst wenn sie dies erlangt, hat der umher¬
spukende Geist der .Handwerkersache und der Versuch, an Stelle der kapi¬
talistisch - grvßiudustrielleu Betriebsweise die modern-handwerkliche zu setzen,
seinen Körper gefunden. Die Innung muß selbst zur Genossenschaft werden,


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[0409] Die Handwerkerbewegnng und ihr mögliches Ziel. Werter diese Erfahrung in vollem Umfange machen, und daß das bischen mo¬ ralischer und sozialer Kraft, über welches das Handwerk gegenwärtig noch ver¬ fügt, bis auf ein Minimum geschwunden sei, ehe man den Mut findet, das erlösende Wort zu sprechen und mit diesem Losungsworte die wirkliche, reelle, erfolgverheißcnde Arbeit in Angriff zu nehmen? Dieses Wort heißt Genossen Mast. Dem schmeichlerischen Traume, die kapitalistische Betriebsform überwinden und dabei doch ihre volle kleingewerbliche Selbständigkeit bewahren zu können, müssen die Handwerker entsagen. Sie haben nicht etwa dazwischen die Wahl, ob jene, zur Zeit so mächtig vordringende Be¬ triebsform zur Herrschaft gelangen soll oder ob einzelne kleine Handwerker wieder zu Kraft und Ehren kommen, sondern nur dazwischen, ob sie ihre wirtschaftliche Selbständigkeit scheinbar noch eine Zeitlang behaupten und währenddem umso sicherer in thatsächliche, immer schlimmer werdende Abhängigkeit von Kapital und Großindustrie kommen wollen, oder ob sie freiwillig ihre, oft so zweifelhafte und ohnehin nicht aufrecht zu erhaltende Selbständigkeit zum Teil einer Ge¬ meinschaft, der sie selbst angehören, opfern wollen. Die Frage, ob die Hand¬ werker dies begreifen und den moralische» Mut finden, demgemäß zu handeln, ist die Frage nach der möglichen Rettung und der Zukunft des Handwerks. Die ,,Innung" ohne wirtschaftlichen Gehalt ist ein Geist ohne Körper. Die Innung des Mittelalters wurde keineswegs bloß durch den Gemeinsinn ihrer Mitglieder getragen und entwickelt, sondern sie hatte eine sehr reale Bedeutung; sie bildete für den Handwerker das, was für den Stadtbürger seine Stadtmauer und sein Stadtrecht war: die feste Umgrenzung zu Schutz und Trutz seiner Rechte und seiner ganzen bürgerlichen Stellung. In Wirklichkeit kann man die damalige Innung als die soziale Heimat ihrer Mitglieder bezeichnen. Das ist heute weder mehr möglich noch nötig, wohl aber ist es, wenn die Innung wieder eine ähn¬ liche Bedeutung wie damals für die Handwerker haben soll, auch unerläßlich, ihr wieder einen ähnlichen Inhalt zu geben. Mit bloßen Redensarten aber ist das ebensowenig zu machen, wie sich mit den Worten „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" die ideale Republik Herstellen ließ, und so vortrefflich alle Lehr¬ lings- und Geselleneinrichtnngcn, so sachgemäß alle Unterhaltungen der Hand¬ werker über Submissionswesen, Gefängnisarbeit, Rechtsverhältnisse der Hand¬ werker ze. sein mögen, so sind doch alle diese, wesentlich immer nur auf den: guten Willen der Einzelnen fußender Einrichtungen nicht geeignet, der Innung gerade das zu geben, was sie braucht: eine Gewalt nach innen und nach außen, einen ständigen, gesicherten, unwiderstehlichen Einfluß auf alle ihre Mitglieder, eine Möglichkeit, die gesamten Kräfte der Einzelnen für die Zwecke der Ge¬ samtheit zusammenzufassen. Erst wenn sie dies erlangt, hat der umher¬ spukende Geist der .Handwerkersache und der Versuch, an Stelle der kapi¬ talistisch - grvßiudustrielleu Betriebsweise die modern-handwerkliche zu setzen, seinen Körper gefunden. Die Innung muß selbst zur Genossenschaft werden, Grenzboten III. 188S, 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/409>, abgerufen am 25.11.2024.