Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.
oder sich "Trost im Leide" zurief:
Er erhebt sich auch wirklich über das kleine Leid des dürftigen Lebens, was
Der fromme Ton, in welchem dieses Lied ansklingt, verirrt sich etwas seltsam
oder sich „Trost im Leide" zurief:
Er erhebt sich auch wirklich über das kleine Leid des dürftigen Lebens, was
Der fromme Ton, in welchem dieses Lied ansklingt, verirrt sich etwas seltsam
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0229" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196329"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_27" type="poem"> <l><cb type="start"/> Die Ströme ziehn zum fernen Meer,<lb/> Die Wolken am Himmel fliehen,<lb/> Und wenn ich ein flüchtiges Böglein wär',<lb/> So möcht' ich mit ihnen ziehen. <cb/> Und bin ich kein Vogel in der Luft,<lb/> So lernt' ich doch pfeifen und singen;<lb/> Und kommt der Lenz mit Klang und Duft,<lb/> Dann mein' ich, es wüchsen nur Schwingen. <cb type="end"/><lb/><lb/><lb/> Und kann ich auch nicht über Wald und Haid',<lb/> Über Seen und Berge schweben,<lb/> So kann ich mich über das kleine Leid<lb/> Des dürftigen Lebens erheben.<lb/></l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_849"> oder sich „Trost im Leide" zurief:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_28" type="poem"> <l> Wer so genoß der Wonne,<lb/> So lang er jung,<lb/> Den wärmt wie eine Sonne<lb/> Erinnerung.</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_850"> Er erhebt sich auch wirklich über das kleine Leid des dürftigen Lebens, was<lb/> nicht so sehr seine wenig unmittelbaren, etwas outrirtcn Triuklicder, die er<lb/> selbst mehr als billig schätzte, sondern die vielen Stimmungs- und Landschafts-<lb/> bilder bezeugen, die nur in Augenblicken glücklich wuuschloser Betrachtung ent-,<lb/> standen sein können. Nur ein einziges wollen wir beispielshalber hersetzen:<lb/> „Die Kapelle am Strande."</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_29" type="poem"> <l><cb type="start"/> Langsam und kaum vernehmbar teilt<lb/> Die wellenlose Flut der Kiel;<lb/> In meiner Seele zittert nach<lb/> Der Ton aus einem Saitenspiel. <cb/> Horch! dieser sanft gedämpfte Laut,<lb/> Der Erd' und Himmel mild versöhnt!<lb/> Das Abendländer ist's, das fern<lb/> Von der Kapelle niedcrtönt. <cb type="end"/><lb/><lb/><lb/> Bescheiden von dem Felsgrund sieht<lb/> Sie über's Meer, so endlos weit;<lb/> So Schmuck wohl ein fromm Gemüt<lb/> Hinüber in die Ewigkeit. </l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_851"> Der fromme Ton, in welchem dieses Lied ansklingt, verirrt sich etwas seltsam<lb/> in diese Gedichtsammlung eines man möchte sagen fanatischen Skeptikers, der<lb/> niemals das Bedürfnis hatte, mit den höchsten Fragen der Menschheit, seien sie<lb/> nun religiöser oder metaphysischer Art, sich zu quälen. Kein Dichter kann<lb/> diese Fragen umgehen, wenn er Bedeutung gewinnen will. So wenig die<lb/> theoretische Ästhetik eine Metaphysik, auf welche die letzten Fragen reduzirt<lb/> werden, entbehren kann, so wenig kann der'Künstler schlechthin Skeptiker sein;<lb/> ja er noch weniger, da ihm das Bedürfnis nach Abrundung seines Weltbildes<lb/> noch lebhafter innewohnt. Doktrinärer Dogmatiker braucht er deshalb noch<lb/> lange nicht zu werden; aber ein Gefühl vom Universum als Kosmos muß er<lb/> im Gemüt lebendig erhalten. Das fehlt in der Lyrik Leutholds. Es ist ganz<lb/> witzig, wenn er seinem kntechisirenden italienischen Mädchen von der Riviera<lb/> erwiedert:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_30" type="poem"> <l> Laß, mein süßes Kind, die Heiligen<lb/> Und deS Glaubens Hieroglyphe,</l> </lg> </quote><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0229]
Die Ströme ziehn zum fernen Meer,
Die Wolken am Himmel fliehen,
Und wenn ich ein flüchtiges Böglein wär',
So möcht' ich mit ihnen ziehen.
Und bin ich kein Vogel in der Luft,
So lernt' ich doch pfeifen und singen;
Und kommt der Lenz mit Klang und Duft,
Dann mein' ich, es wüchsen nur Schwingen.
Und kann ich auch nicht über Wald und Haid',
Über Seen und Berge schweben,
So kann ich mich über das kleine Leid
Des dürftigen Lebens erheben.
oder sich „Trost im Leide" zurief:
Wer so genoß der Wonne,
So lang er jung,
Den wärmt wie eine Sonne
Erinnerung.
Er erhebt sich auch wirklich über das kleine Leid des dürftigen Lebens, was
nicht so sehr seine wenig unmittelbaren, etwas outrirtcn Triuklicder, die er
selbst mehr als billig schätzte, sondern die vielen Stimmungs- und Landschafts-
bilder bezeugen, die nur in Augenblicken glücklich wuuschloser Betrachtung ent-,
standen sein können. Nur ein einziges wollen wir beispielshalber hersetzen:
„Die Kapelle am Strande."
Langsam und kaum vernehmbar teilt
Die wellenlose Flut der Kiel;
In meiner Seele zittert nach
Der Ton aus einem Saitenspiel.
Horch! dieser sanft gedämpfte Laut,
Der Erd' und Himmel mild versöhnt!
Das Abendländer ist's, das fern
Von der Kapelle niedcrtönt.
Bescheiden von dem Felsgrund sieht
Sie über's Meer, so endlos weit;
So Schmuck wohl ein fromm Gemüt
Hinüber in die Ewigkeit.
Der fromme Ton, in welchem dieses Lied ansklingt, verirrt sich etwas seltsam
in diese Gedichtsammlung eines man möchte sagen fanatischen Skeptikers, der
niemals das Bedürfnis hatte, mit den höchsten Fragen der Menschheit, seien sie
nun religiöser oder metaphysischer Art, sich zu quälen. Kein Dichter kann
diese Fragen umgehen, wenn er Bedeutung gewinnen will. So wenig die
theoretische Ästhetik eine Metaphysik, auf welche die letzten Fragen reduzirt
werden, entbehren kann, so wenig kann der'Künstler schlechthin Skeptiker sein;
ja er noch weniger, da ihm das Bedürfnis nach Abrundung seines Weltbildes
noch lebhafter innewohnt. Doktrinärer Dogmatiker braucht er deshalb noch
lange nicht zu werden; aber ein Gefühl vom Universum als Kosmos muß er
im Gemüt lebendig erhalten. Das fehlt in der Lyrik Leutholds. Es ist ganz
witzig, wenn er seinem kntechisirenden italienischen Mädchen von der Riviera
erwiedert:
Laß, mein süßes Kind, die Heiligen
Und deS Glaubens Hieroglyphe,
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